© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/12 09. November 2012

„Kollektive Verantwortungslosigkeit“
Euro-Krise: Eine neue Denkfabrik wirft einen kritischen Blick auf die derzeitige Rettungspolitik
Christian Dorn

Während Deutschland sich energiepolitisch auf dem Weg der „Deindustrialisierung“ befindet, so die Warnung des zuständigen EU-Kommissars Günther Oettinger, ruft auch die von der herrschenden Politik dekretierte Alternativlosigkeit in der Euro-„Rettung“ immer mehr Kritiker auf den Plan, deren gemeinsamer Nenner vor allem ihre parteipolitische Heimatlosigkeit zu sein scheint.

Jüngster Beleg hierfür ist die neu gegründete eigenständige Denkfabrik „Open Europe Berlin“ mit Partnerorganisationen in Brüssel und London, die sich Ende vergangene Woche in Berlin der Öffentlichkeit präsentierte. Deren Vorsitzender, der Volkswirt Michael Wohlgemuth, stellte das ordnungspolitische Selbstverständnis dieser politischen Stiftung vor, das sich dem Geist der Freiburger Schule verpflichtet fühlt. Als dringlichste Aufgabe wurde der Kampf gegen die aktuelle Politik zur „Euro-Rettung“ beschrieben.

Entsprechend wurde eine erste Studie vorgestellt, die die zu erwartenden Kosten bezifferte, die im Falle einer zweijährigen Fristverlängerung Griechenlands für dessen Haushaltskonsolidierung und Reformprogramme auflaufen würden. Demnach dürften die dadurch anfallenden Gesamtkosten sich auf 28,5 Milliarden Euro summieren. Trotz sechs verschiedener Szenarien, die das Papier aufführt, bleibt auch hier das Szenario des Euro-Austritts von Griechenland unausweichlich. Vor diesem Hintergrund appellierte Wohlgemuth „für ein Europa der Bürger, nicht der Bürgen!“ Tatsächlich sei die Gegenwart aber von „kollektiv harmonisierter Verantwortunglosigkeit“ und „institutioneller Sklerose“ gekennzeichnet. Ins Gericht ging Hayek-Schüler Wohlgemuth auch mit der von manchen als chauvinistische Anmaßung empfundenen Äußerung von CDU-Fraktionschef Volker Kauder, daß in Europa nun einheitlich „Deutsch gesprochen“ werde. In der Tat erscheint es aberwitzig, die als ein „Friedensprojekt“ überhöhte Einheitswährung mit martialischen Begriffen wie „Feuerkraft“, „dicke Bertha“ oder „Bazooka“ retten zu wollen. Auch deutsche Worte wie „Länderfinanzausgleich“ oder „Globalsteuerung“ sollte sich Brüssel besser nicht aneignen. Überhaupt seien „gute Europäer“ am Ende jene, für die ein „Einheitseuropa unter Brüsseler Verwaltung nicht alternativlos ist“.

Verdeutlicht wurde dieser Affront gegen das politische Establishment im Festvortrag des ehemaligen EZB-Chefvolkswirtes Otmar Issing, der bezeichnenderweise mit zu den einstigen Vätern der Euro-Währung zählt und sich auch heute noch nicht ganz von dem Projekt verabschieden will. Dennoch ließ seine Kritik an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. So sei der Begriff der „Ordnung“ aus der deutschen Wirtschaftspolitik längst verschwunden, stattdessen erlebten wir Vertragsbrüche jeder Art. Allein das Beispiel „Energiewende“, bemerkte Issing – der zu Beginn seiner Laufbahn klassische Philologie studiert hatte – biete den Stoff für eine „abendfüllende Komödie“ von Aristophanes. Bezeichnend sei auch die Kakophonie von „Europa“, worunter jeder etwas anderes verstehe. Selbst der geographische Begriff scheine heute obsolet, da Länder wie Kasachstan oder Israel Bestandteil der Qualifikationsturniere zur Fußball-Europameisterschaft sind. Insbesondere die Türkei gehöre auch nicht zu Europa. Stattdessen habe der jüngste Auftritt Erdogans in Berlin die „Geringschätzung Europas in der heutigen Welt widergespiegelt“.

Begonnen habe dieser Verlust schon in den fünfziger Jahren, als sich der Westen – in Form der EWG – den Begriff „Europa“ anmaßend zu eigen gemacht habe. Statt dem einen Haus Europa, so Issings Prophezeiung, würden wir am Ende wohl doch wieder mehrere haben. Eine gesunde Skepsis – wie auch die jüngste Parlamentsniederlage von David Cameron demonstriert – zeigten die Engländer, die bis heute nur sich selber gehörten. Die Fragwürdigkeit des EU-Betriebs verkörpere sich nicht zuletzt in ihren sprachlichen Formeln, schon beginnend mit dem 1952 geschaffenen Exekutivorgan der „Hohen Behörde“, das bereits damals den planwirtschaftlichen Charakter offenbart habe. Explizit wurde Issing auch in seiner Kritik an der schwarz-gelben Bundesregierung. Die Empfehlungen des Sachverständigenrates seien „politisch falsch und wirtschaftlich naiv“. Noch unbegreiflicher sei ihm die Begeisterung für „Euro-Bonds“, die am Ende nicht mehr kontrollierbar seien. Als ehemaliger Notenbanker warne er denn auch vor dem Gebrauch inflationärer Begriffe wie dem der „Solidarität“, der inzwischen pervertiert sei.

Die zum 1. Januar 2013 geplante Bankenunion lehnte Issing mit scharfen Worten ab. Diese kurzfristige Terminierung sei ebenso absurd wie skandalös. „Faktisch“ werde sie zur „Enteignung der deutschen Sparer“ führen. Einer der hierfür Hauptschuldigen, Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), wurde von Issing mit bezeichnenden Worten herausgestellt: Jüngst habe dieser sinngemäß behauptet, daß die Euro-Staaten bei der No-Bail-Out-Klausel gar keinen Vertrag gebrochen hätten, denn alle Beteiligten hätten das ja freiwillig gemacht. Im Auditorium brach daraufhin Gelächter aus.

Doch kehrte der Ernst zurück, als sich der Publizist Arnulf Baring zu Wort meldete. Vor mittlerweile einem Jahrzehnt hatte er die Bürger Deutschlands aufgefordert, auf die Barrikaden zu gehen. Er vermißte bei Issing die handlungspraktische Konsequenz. Symptomatisch dafür die zaghafte Reaktion Issings: Vielleicht hätte Deutschland mit dem Austritt aus der Währungsunion zumindest drohen sollen, aber selbst dafür sei es heute wohl zu spät.

www.openeuropeberlin.de

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