© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/12 09. November 2012

Deutsche längst nicht mehr Weltspitze
Pharmaindustrie: Die Schweizer Konzerne Novartis und Roche sowie Pfizer aus den USA geben weltweit am meisten für Forschung aus / Zukunftsmarkt ignoriert?
Christian Schreiber

Lange war die Welt für die deutsche Pharmaindustrie in Ordnung – trotz der massiven Enteignungen in Folge der beiden Weltkriege. Daß aus der traditionsreichen Berliner Schering AG inzwischen die Bayer HealthCare Pharmaceuticals geworden ist, spricht Bände. Früher sprach man gerne davon, daß Deutschland die „Apotheke der Welt“ sei. Doch damit ist es offenkundig vorbei. „Die Apotheke der Welt heißt Schweiz“, konstatierte die Ärztezeitung.

Knapp zwei Drittel der Führungskräfte in der Branche glauben, daß die Pharmaindustrie momentan in einer strategischen Krise steckt. Die Gesundheitssysteme stehen unter massivem Kostendruck, die Anforderungen der Patienten steigen und die Firmen müssen immer höhere Summen in die Neuentwicklung von Medikamenten investieren. Dies geht aus einer Befragung der Unternehmensberatung Roland Berger hervor. Es ist schwer zu sagen, wann genau die deutsche Pharmaindustrie ihre Vorreiterrolle verloren hat. Die meisten Branchenexperten sprechen davon, daß dies schon Anfang bis Mitte der neunziger Jahre der Fall gewesen sei.

Die deutschen Konzerne seien bei der von der Finanzindustrie mitbefeuerten globalen Fusionswelle entweder Opfer oder Zuschauer gewesen. So habe man den Anschluß verloren. „Auch wenn es einmal anders war. Die deutsche Pharmaindustrie spielt mittlerweile in der Zweiten Liga“, klagte die Süddeutsche Zeitung bereits vor zwei Jahren – und es könnte noch schlimmer kommen. 2012 ist ein ganz schlimmes Jahr für die Branche. Derzeit verlieren die Konzerne Patente für Arzneimittel, die insgesamt einen Umsatz von 33 Milliarden US-Dollar einspielen – das ist eine Rekordzahl. Bis 2018 werden Patente für weitere 290 Milliarden US-Dollar Umsatz verlorengehen – das ist fast ein Drittel des derzeitigen Marktes. Die Erfahrung zeigt: Nach dem Verlust eine Patents drängen Firmen auf den Markt, die mit preisgünstigen Kopien (Generika) einen Verdrängungswettbewerb starten, und die forschenden Konzerne verlieren binnen weniger Wochen bis zu 90 Prozent ihres bisherigen Umsatzes.

Exemplarisch für den Abstieg der deutschen Firmenelite ist der Fall Hoechst AG. Jahrzehntelang war das Vorzeigehaus ein weltweiter Marktführer und gefürchteter Wettbewerber. Doch 1999 verschwand das ursprünglich 1863 gegründete Unternehmen aus dem Aktienindex Dax. Fünf Jahre später wurden die letzten Aktionäre gezwungen, ihre Papiere an die Mutterholding Aventis zu verkaufen. Zur Jahreswende 2004 wurde Aventis mit der französischen Sanofi-Aventis verschmolzen. Die Firmenzentrale ist in Paris.

Branchenoptimisten warnen dennoch davor, alles schlechtzureden. Die deutsche Pharmaindustrie gehöre mit über 100.000 Beschäftigten in mehr als 235 Betrieben und einem Umsatz von 39,1 Milliarden Euro (2011) zu den zentralen Säulen der deutschen Wirtschaft. Deutschland sei weltweit immer noch drittgrößter Pharmaproduktionsstandort. Doch der deutsche Erfindergeist ist ins Grübeln gekommen. „Woran liegt es, daß wir nicht mehr so erfolgreich Medikamente entwickeln?“, fragen sich viele Manager laut der Berger-Studie.

Das bisherige Geschäftsmodell sei am Ende, sagen zwei von drei Managern der Pharmaindustrie laut einer Umfrage der Strategieberatung Booz & Co. Die deutschen Konzerne haben versucht, sich auf die veränderte Großwetterlage einzustellen. Sie haben andere Firmen aufgekauft und so ihre Bilanzen aufgepäppelt. Früher war es einfach: Man hat neue Medikamente entwickelt und diese teuer verkauft. Doch der Trend geht zur Spezialisierung, Medikamente für seltene Krankheiten werden gesucht, keine Massenprodukte – doch das ist teuer. So wurden Generikasparten aufgebaut oder die Geschäfte mit freiverkäuflichen Medikamenten gestärkt. „Das Ergebnis sind steigende Umsätze bei fallenden Renditen – trotz enormer Sparbemühungen“, analysierte die Berliner Zeitung.

Branchenkenner monieren zudem, daß die deutsche Pharmaindustrie zu wenig in die Forschung investiere. Dabei ist das Geschäft mit Arzneimitteln ein Zukunftsmarkt. Die europäische und ostasiatische Bevölkerung altert massiv, ein geeignetes Medikament gegen Demenz wird immer noch gesucht. Hoffnungen erwecken Schwellenländer wie China, Indien oder Brasilien. Dort entkommen Millionen der Armut und können so Geld für Gesundheit ausgeben. Eigentlich verlockende Aussichten für den Exportweltmeister Deutschland. Doch anders als im Autobau kommen die Pharmamarktführer aus der Schweiz und den USA.

Boeringer-Ingelheim und Bayer-Schering tummeln sich im internationalen Mittelfeld. Auch wenn es um die Ausgaben für Forschung und Entwicklung geht, spielen deutsche Pharmaunternehmen ebenfalls nicht mehr vorne mit. Diese Rangliste führt der japanische Autobauer Toyota an, gefolgt von den Schweizer Pharmafirmen Novartis und Roche. Der Weltmarktführer Pfizer (USA) liegt hier auf Rang vier. Und VW gibt mehr für Forschung aus als Bayer und Merck zusammen.

„The 2012 Global Innovation 1.000“-Studie der Strategieberatung Booz & Company: www.booz.com

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