© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/12 16. November 2012

Warnung vor einem Schnellschuß
Demographie: Die Anwerbung von Arbeitskräften aus Südeuropa stößt bei Experten auf Skepsis
Christian Schreiber

Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin macht es kurz: „Der Fachkräftemangel ist Quatsch“, sagt er der Zeit. Es gebe zwar vorübergehende Personalengpässe, aber nur in ganz wenigen Berufen und längst nicht überall. In Teilen Mitteldeutschlands zum Beispiel, wo die Jungen in den Westen abwandern, oder im Süden, wo manche Firmen so schnell wachsen, daß sie ihre Stellen schwer besetzen können. Aber ein flächendeckender, langfristiger Mangel? Fehlanzeige.

Brütet Deutschland, wie die Zeit vermutet, also wieder einmal über einem Problem, welches keins ist? Angesichts der regelmäßigen Alarmmeldungen aus Politik und Wirtschaft stellt sich jedenfalls ein anderer Eindruck ein. Es vergeht keine Woche, in der sich nicht ein führender Wirtschaftsvertreter zu Wort meldet und vom Fachkräftemangel spricht. Bei den Ingenieuren sei das Loch besonders groß: Mehr als 100.000 Ingenieure haben im Frühjahr 2012 gefehlt. Das sagt das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft. Und es geht längst nicht mehr nur um Akademiker. Es ist kein Geheimnis, daß die Pflegebranche in Deutschland über fehlendes qualifiziertes Person klagt. Auch wenn sich die führenden Arbeitgeber vor zwei Jahren auf einen gesetzlichen Mindestlohn geeinigt haben, ist der Mangel groß. Die Arbeit gilt als psychisch und physisch belastend und ist zudem schlecht bezahlt.

Als erstes Land hat nun Hessen reagiert. Sozialminister Stefan Grüttner (CDU) kündigte in der vergangenen Woche an, Fachkräfte aus Spanien anzuwerben. In dem Modellversuch sollen zunächst 100 Arbeitsstellen in drei Städten durch Fachkräfte aus der Region Madrid besetzt werden. „Damit stellen wir eine wichtige Weiche, um dem Fachkräftemangel im Pflegebereich entgegenzuwirken und zu einer Entlastung der Pflegenden beizutragen“, sagte Grüttner der Frankfurter Rundschau. Zugleich kündigte das Sozialministerium an, das Altenpflegegesetz ändern zu wollen. Danach sollen im Ausland erworbene Qualifikationen leichter anerkannt werden.

Dies ist Wasser auf die Mühlen der schwarz-gelben Bundesregierung. Allen voran Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) treibt die Anwerbung von ausländischen Fachkräften voran. Sie vereinbarte in der vergangenen Woche bei einer Deutsch-Spanischen Ausbildungskonferenz in Stuttgart mit ihrem Amtskollegen José Ignacio Wert Ortega eine entsprechende Zusammenarbeit. Wegen des Fachkräftemangels gebe es für spanische Jugendliche auch in Deutschland interessante Ausbildungsmöglichkeiten, sagte Schavan der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ). Sie erklärte weiter, es dürfte nicht zugelassen werden, daß eine ganze Generation junger Menschen verlorengehe. Deutschland habe sehr gute Erfahrungen mit dem dualen Berufsbildungssystem mit praktischer Ausbildung und Schule gemacht. Spanische Unternehmen, die in Deutschland eine Niederlassung haben, könnten für die Initiative wichtige Botschafter werden. Und deutsche Unternehmen stünden auch in Spanien bereit, nach den deutschen Grundsätzen auszubilden.

Immer mehr zeigt sich, daß Deutschland fest im Griff des demographischen Wandels ist. Die Bevölkerung wird älter und älter und geburtenschwache Jahrgänge werden auch langfristig dafür sorgen, daß Arbeits- und Ausbildungsplätze frei bleiben werden. Der für die Auslandskammern zuständige Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Hans Heinrich Driftmann, beziffert die Zahl bis zum Jahr 2025 auf 6,5 Millionen. Er lobte die Initiative der Politik und mahnte, daß beim Anwerben allerdings klare Bedingungen gestellt würden müßten: „Wir legen bei Zuwanderern die gleichen Qualifikationsmaßstäbe an wie bei heimischen Bewerbern, und natürlich müssen ausländische Arbeitnehmer bereit sein, die deutsche Sprache zu lernen.“ Damit gebe es klare Unterschiede zur früheren Anwerbung von Gastarbeitern, so Driftmann: „Damals haben wir zumeist einfache Arbeiter aus unterschiedlichen Ländern hierher geholt. Die Menschen waren schlecht oder gar nicht ausgebildet“, sagte er der Wirtschaftswoche.

Doch es gibt nicht nur Beifall für Schavans Initiative. Der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Guntram Schneider (SPD) bezeichnete die von der Bundesbildungsministerin gestartete Initiative als „Schnellschuß“. In den EU-Ländern gebe es bereits die Arbeitnehmerfreizügigkeit, junge Arbeitssuchende könnten in jedem EU-Land einer Tätigkeit nachgehen, sagte er Schneider WAZ. Die von Schavan geplante Kooperation nutze deshalb „weder Spanien noch Deutschland“. Er warnte vor einem Fachkräftetourismus innerhalb der EU. Nach Angaben der Europäischen Kommission sind 5,5 Millionen Jugendliche zwischen 14 und 25 Jahren in Europa arbeitslos, besonders südeuropäische Länder seien stark betroffen. Während in Spanien die Jugendarbeitslosigkeit im Mai bei 52,1 Prozent gelegen habe, habe Deutschland mit 7,9 Prozent die europaweit niedrigste Quote gehabt. Die Bundesagentur für Arbeit hat unterdessen der Zeit widersprochen. Die Zahlen seien belegbar, heißt es, bis zum Jahr 2025 könnten 3,5 Millionen Fachkräfte fehlen.

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