© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/12 16. November 2012

Bürger für die Rechtsstaatlichkeit
Vor 175 Jahren protestierten sieben Professoren gegen die Aufhebung der Verfassung im Königsreich Hannover und wurden daraufhin entlassen
Karlheinz Weissmann

Wenn man über den Campus der Göttinger Universität geht, wird man möglicherweise eine Stahlskulptur bemerken, die ineinander verschlungen ein „G“ und eine „7“ darstellt. An anderen Orten mag man anderes mit Buchstabe und Zahl verbinden, in Göttingen kommt eigentlich nur die Assoziation „Göttinger Sieben“ in Frage. Gemeint sind damit der Jurist Wilhelm Eduard Albrecht, der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann, der Theologe und Orientalist Heinrich Ewald, der Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus, die Germanisten und Juristen Jacob Grimm und Wilhelm Grimm sowie der Physiker Wilhelm Eduard Weber, also jene sieben Göttinger Professoren, die 1837 den von ihrem Herrscher verlangten Eid verweigerten, da sie ihn – zu Recht – im Widerspruch zu dem Eid sahen, den sie auf die Verfassung geleistet hatten.

Es handelte sich dabei um die Verfassung des Königreichs Hannover, die eine gemäßigt liberale Ordnung garantieren sollte. Der neue König Ernst August hatte sie gleich bei seinem Amtsantritt aufgehoben. Im Hintergrund spielte auch eine Rolle, daß die seit mehr als einhundert Jahren dauernde Personalunion zwischen Hannover und Großbritannien gerade beendet worden war, weil das Vereinigte Königreich die weibliche Thronfolge zuließ, das Stammland der Dynastie, Hannover, aber nicht. Während also seine Nichte Victoria Königin von Großbritannien wurde, erhielt Ernst August die Krone Hannovers. Er war zu diesem Zeitpunkt schon sechsundsechzig Jahre alt, aber tatkräftig, trug den Titel eines Herzogs von Cumberland, hatte gewisse Verdienste als Offizier in den Revolutionskriegen, führte aber ein chaotisches Privatleben, zu dem auch hohe Schulden gehörten, zeigte einen „aus Schroffheit und Heimtücke seltsam gemischten Charakter“ (Heinrich von Treitschke) und galt als ausgesprochener „Reaktionär“, der gar kein Hehl daraus machte, daß er absolutistisch regieren wollte.

Dementsprechend war sein Ruf in liberalen Kreisen, nicht nur in Hannover, und die Eidverweigerung der Göttinger Sieben wurde in ganz Deutschland als Heldentat gefeiert. Es fiel leicht, die Maßnahmen des Königs, der die Professoren nicht nur absetzen, sondern drei von ihnen (Dahlmann, Gervinus und Jacob Grimm) auch aus dem Land weisen ließ, zu verurteilen. Überall auf dem Gebiet des Deutschen Bundes fanden Solidaritätsbekundungen statt, wurden Manifeste geschrieben und wurde Geld gesammelt, um den Amtsenthobenen ihre Gehälter weiter zu zahlen.

Die Presse führte fast geschlossen einen „Federkrieg“, dessen Stratege Dahlmann war, der politische Kopf der Sieben. Kaum eine Zeitung wagte, die Maßnahme des Königs zu verteidigen. Denn für jeden politisch denkenden Bürger gehörten dessen Maßnahmen in den Zusammenhang der „Demagogenverfolgung“, die immer wieder zu Zensurmaßnahmen und Berufsverboten führte, und sie bewiesen noch dem Gutwilligsten die Handlungsunfähigkeit des Deutschen Bundes, der eigentlich gegen den Rechtsbruch des Hannoveraners hätte vorgehen müssen.

Immerhin hatte sich das Klima des „Vormärz“ doch seit der revolutionären Welle von 1830 und dem Hambacher Fest von 1832 deutlich erwärmt, und die hannoversche Verfassung von 1833 durfte man durchaus als Signal werten, daß die Herrschenden zu Zugeständnissen bereit waren und sich die deutschen Staaten Stück für Stück auf das Modell der konstitutionellen Monarchie zubewegten. Auch das erklärt, warum die Göttinger Sieben nicht mit einer so scharfen Reaktion des Königs rechnen mußten, und ihrerseits alles taten, um den Eindruck zu vermeiden, daß sie zu prinzipiellem Ungehorsam neigten oder einen Umsturz planten.

Auf dem erwähnten Denkmal ist der heute fast devot wirkende Ausschnitt aus ihrer Adresse vom 18. November 1837 an den König wiedergegeben, in dem es heißt: „Wenn die unterthänigst Unterzeichneten sich nach ernster Erwägung der Wichtigkeit des Falles nicht anders überzeugen können, als daß das Staatsgesetz seiner Errichtung und seinem Inhalte nach gültig sei, so können sie auch, ohne ihr Gewissen zu verletzen, es nicht stillschweigend geschehen lassen, daß dasselbe ohne weitere Untersuchung und Vertheidigung von Seiten der Berechtigten, allein auf dem Wege der Macht zu Grunde gehe. Ihre unabweisliche Pflicht vielmehr bleibt, wie sie hiermit thun, offen zu erklären, daß sie sich durch ihren auf das Staatsgrundsatz geleisteten Eid fortwährend verpflichtet halten müssen.“

Wie konservativ der Liberalismus der Göttinger Sieben grundiert war, konnte man nicht zuletzt der Verteidigungsschrift Dahlmanns entnehmen, der schon das hannoversche Staatsgrundgesetz dafür gelobt hatte, daß es der deutschen Rechtsüberlieferung entspreche, indem es dem König eine Vertretung aus Adel, Bürgern und Bauern zur Seite stelle, ohne das westliche Modell des Parlamentarismus nachzuahmen. Jetzt argumentierte er damit, daß es im Protest gegen den königlichen Staatsstreich auch und gerade um das Recht des Königs gehe: „Ich kämpfe für den unsterblichen König, für den gesetzmäßigen Willen der Regierung, wenn ich mit den Waffen des Gesetzes das bekämpfe, was in der Verleitung des Augenblicks der sterbliche König im Widerspruch mit den bestehenden Gesetzen beginnt.“

Daß die Göttinger Sieben als „Historisch-Liberale“ (Otto Westphal) sehr weit von modernen Auffassungen des Liberalismus entfernt waren, ist angesichts der Neigung, sie einfach als moralisches Muster der Vorgeschichte deutscher Demokratie einzuordnen, in Vergessenheit geraten. Ihre Verehrung ist kanonisch, was auch die Bereitschaft eines Günter Grass erklärt, das eingangs beschriebene Denkmal zu schaffen. Offenbar ohne weltanschaulichen Vorbehalt, der sicher zu erwarten gewesen wäre, hätte er Genaueres gewußt.

So wie zum Beispiel der Frankfurter Mediävist Klaus von See, der sich vor einigen Jahren an der Dekonstruktion der Göttinger Sieben versuchte, indem er vor allem Jacob Grimm „völkisches“ Gedankengut und jedem Beteiligten undemokratische Positionen vorwarf. Erfolgreich war er damit nicht, wenngleich man die Berechtigung seiner Kritik in der Sache schwer bestreiten kann, vorausgesetzt, die Normen des Grundgesetzes gelten als überzeitliche Ordnung.

Wenn nicht, dann müssen die Göttinger Sieben weiter als Vorbilder gelten, obwohl es ihnen weder gelungen ist, den König zum Nachgeben zu zwingen und die verfassungsmäßigen Zustände wiederherzustellen, noch ihre Rückkehr nach Göttingen zu erreichen. Aber an ihrem Beispiel zeigte sich, daß erstens ein Handeln aus Gewissensgründen durchaus praktischen Erfolg haben kann; daß zweitens unter Umständen die Tat von wenigen einen entscheidenden Impuls für das Entstehen einer Massenbewegung abgibt; und daß drittens aus ihrem Vorbild das ungeheure Ansehen der Professorenschaft resultierte, von der die Deutschen in Zukunft nicht nur intellektuelle, sondern auch moralische Weisung erwarteten – wenngleich je länger, je weniger.

Foto: Göttinger Sieben, Lithografie von Carl Rohde, 1837/38: Wilhelm Grimm, Jacob Grimm (obere Reihe), Wilhelm Eduard Albrecht, Friedrich Christoph Dahlmann, Georg Gottfried Gervinus (mittlere Reihe) Wilhelm Eduard Weber, Heinrich Georg August Ewald (untere Reihe)

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