© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/12 23. November 2012

Ein kleiner Junge, der leben durfte
Constanze Bohgs herzzerreißendes Drama um ihren kleinen Sohn Julius, der kurz nach der Geburt stirbt
Anni Mursula

Es ist eine laue Sommernacht im August 2011. Die Fenster des Kreißsaals im katholischen St. Joseph-Krankenhaus in Berlin-Tempelhof stehen offen. Warme Luft strömt in das Zimmer, draußen zirpen die Grillen – sonst herrscht völlige Stille. Auf dem Bett liegt eine Frau, auf ihrer Brust ein kleiner Junge, der gerade zur Welt gekommen ist. Die Minuten vergehen, im Zimmer bleibt es ruhig: Das Kind fängt nicht an zu weinen, dennoch macht sich keine Unruhe breit, auch die Eltern werden nicht nervös. Der Junge wird seiner Mutter nicht weggenommen, nicht an Schläuche angeschlossen. Keine Ärzte, die sich hektisch um ihn kümmern. Alle wissen, das Neugeborene wird nur ein sehr kurzes Leben haben.

Aber es lebt, jetzt und in diesem Moment: „Hier ist der Herzschlag“, sagt die Hebamme, als sie ihre Finger auf die kleine Brust des Jungen legt. „Wir hielten ein lebendes Kind auf dem Arm. Er weinte nicht, er hatte die Augen geschlossen, er bewegte sich nicht. Aber sein Herz schlug!“ beschreibt Constanze Bohg die Minuten später in ihrem Buch „Viereinhalb Wochen“.

Die Geburt eines Kindes ist für die meisten Eltern ein bewegendes Erlebnis, doch für Familie Bohg ist sie ein Wunder: Ihr erstes Kind, ein Sohn, kam in der 27. Schwangerschaftswoche lebend zur Welt, trotz schwerster Behinderung. Die Diagnose lautete occipitale Encephalocele, eine nur äußerst selten vorkommende Erkrankung, bei der sich Gehirn und Rückenmark teilweise außerhalb des Körpers befinden. Ein Todesurteil. Allerdings nicht nur wegen der Behinderung selbst, sondern weil so gut wie keinem Kind mit dieser Diagnose die Chance gegeben wird, überhaupt geboren zu werden: Weltweit entscheiden sich ihre Eltern fast ausnahmslos für eine Abtreibung.

Als Constanze und Tibor Bohg in der 14. Schwangerschaftswoche die Diagnose für ihr ungeborenes Kind erhalten, bricht für sie eine Welt zusammen. Sie waren glücklich und voller Vorfreude in die Berliner Praxis für Pränataldiagnostik gekommen. Wie Tausende andere Eltern heutzutage waren auch sie rein routinemäßig zu der Untersuchung geschickt worden, obwohl sie zu keiner Risikoschwangerschaftsgruppe gehörten. Sie wollten die Chance nutzen, ihr Kind mit modernster Technik bereits vor der Geburt dreidimensional kennenzulernen: Wie würde es aussehen? Wessen Nase würde es haben?

Und dann die „Finsternis“, wie Constanze Bohg die niederschmetternde Diagnose beschreibt. Als die Schwere der Behinderung klar wird, steht eine Abtreibung sofort im Raum: Die Ärzte beginnen von sich aus über das noch lebende Kind in der Vergangenheitsform zu reden. Es spreche alles für einen Abbruch, sagt der Arzt. Die meisten Frauen entschieden sich in einer solchen Situation für diesen Schritt. Und weil das so ist, kann der Arzt auch nicht die wichtigste Frage der Eltern beantworten: Welche Lebenserwartung hat das Ungeborene? Er kennt keinen Fall, bei dem einem solchen Kind eine Lebenschance gewährt wurde.

In ihrer Verzweiflung wird Constanze Bohg rasend vor Wut. Trotz steigt in ihr auf „wie Lava in einem Vulkan“ und sie wird zur „Löwin“, wie sie schreibt, die ihren Nachwuchs beschützen will. „Das entscheiden wir, wie es hier weitergeht“, blafft sie den behandelnden Arzt an. Aber genau das ist das Problem: Sie müssen entscheiden, ob sie wollen oder nicht. Durch das neugewonnene Wissen stehen die jungen Eltern plötzlich vor der Entscheidung über Leben und Tod ihres eigenen Kindes. Die Abwägung, das Für und Wider, fällt ihnen nicht leicht, obwohl sie als Christen zumindest theoretisch immer gegen Abtreibung waren und Constanze Bohg selbst einen behinderten Bruder hat.

Viereinhalb Wochen lang ringt das Paar mit sich und mit Gott. Sie wägen alle Möglichkeiten ab, ohne Tabus, und stehen dabei mitunter vor dem Abgrund ihrer eigenen Welt- und Moralvorstellungen. Doch am Ende gibt es nur eine Entscheidung für sie. Sie lieben ihr Kind bedingungslos und wollen sein Schicksal deshalb wieder in Gottes Hand legen.

Ihr Sohn, Julius Felix, soll auf natürlichem Weg zur Welt kommen und eines natürlichen Todes sterben. Sie wollen ihn nach der Geburt nicht der Intensivmedizin übergeben, um ihn dann nach Minuten, Stunden oder Tagen, angeschlossen an irgendwelche Geräte, sterben zu sehen. Sie wünschen sich für das Kind eine palliativmedizinische Behandlung, bei der nicht mehr die Verlängerung des Lebens um jeden Preis im Vordergrund steht, sondern die Qualität der noch verbleibenden Zeit.

Als Julius Felix am 23. August 2011 geboren wird, halten ihn seine Eltern zwei Stunden lang im Arm. Sie sprechen mit ihm und singen ihm Lieder – lassen ihn ihre Liebe spüren. Sie tun alles, was sie als Eltern für dieses Kind tun können, dann schläft er friedlich ein, auf dem Arm seines Vaters.

Trotz all der Trauer ist das Buch keineswegs hoffnungslos: In einer Zeit, in der Ungeborene immer früher selektiert werden und Abtreibungen zuweilen gesellschaftlich erwünscht sind, hält Constanze Bohg tapfer dagegen. Sie macht anderen Eltern Mut, auf sich selbst zu hören und einen eigenen Weg zu finden. Denn wirklicher Friede könne in einer solchen Situation nicht durch eine Abkürzung erreicht werden. Leider versuchten viele Eltern aber genau das – oft auch auf Druck der Ärzte – und entschieden sich zu schnell für einen Abbruch. Eine gereifte Entscheidung, mit der die Betroffenen auch nach Jahren noch leben könnten, benötige aber vor allem eines: Zeit.

Schonungslos ehrlich beschreibt Constanze Bohg ihren Weg „durch die Hölle“. Diese Offenheit, die zu Anfang ein wenig befremdlich wirkt, ist es aber, die das Buch so außergewöhnlich macht: Es ist ein klares Bekenntnis für das Leben, ohne erhobenen Zeigefinger und ohne Moralkeule, authentisch und bewegend. Es ist die Geschichte eines kleinen Jungen, der leben durfte, wenn auch nur für wenige Stunden, und die seiner Eltern.

Constanze Bohg, Lukas Lessing: Viereinhalb Wochen. Die Geschichte von unserem kleinen Julius. Pattloch Verlag, München 2012, gebunden, 248 Seiten, 19,99 Euro

Foto: Nach zwei Stunden Kuscheln schläft der Säugling friedlich in den Armen seines Vaters ein: „Das entscheiden wir, wie es hier weitergeht“

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