© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/12 23. November 2012

„Der Tod der europäischen Kultur“
Richard Millet zählt zu den preisgekrönten Schriftstellern Frankreichs. Dann veröffentlichte er einen Essay mit dem Titel „Lobrede auf Anders Breivik“, den Massenmörder von Oslo und Utoya – und provozierte einen Skandal.
Moritz Schwarz

Herr Millet, Sie sagen, Sie erkennen in den Morden Anders Breiviks eine „literarische Dimension“?

Millet: Breivik ist furchteinflößend. Man muß sich dem Abscheulichen stellen, dem Unentschuldbaren. Dostojewski lieferte in den „Dämonen“ sehr gute Porträts von Monstern, Truman Capote in „Kaltblütig“. Von Breivik zu sprechen bedeutet also eine Methode, um vom Bösen zu sprechen. Ist das nicht die Aufgabe des Schriftstellers?

Aber eine „Lobrede“? Ich bitte Sie!

Millet: Breivik ist ein verfehlter Schriftsteller – er selbst definierte sich im Laufe seines Prozesses als Schriftsteller. Meine „Eloge“ ist offensichtlich ironisch.

Inwiefern?

Millet: Breivik symbolisiert den Tod der europäischen Kultur. Ich wollte zeigen, daß Literatur und noch viel mehr Kultur im Abendland keinen Wert mehr besitzen und daß es der Tod derselben ist, der das Vordringen des Multikulturalismus ermöglicht. Breivik und der Multikulturalismus verkörpern den Tod der Literatur insoweit, als daß letztere eine der gehobensten Ausdrucksformen dieser Kultur ist.

Sie distanzieren sich also von der Tat, identifizieren sich aber mit dem Motiv? Muß das nicht in ihrer Legitimierung enden?

Millet: Ich legitimiere gar nichts. Breivik ist ein Krimineller, dies möchte ich hier mit allem Nachdruck bekräftigen. Schon gar nicht legitimiere ich seine Taten. Aber zu glauben, daß Norwegen unschuldig sei, wäre naiv.

Was bitte meinen Sie denn damit?

Millet: Es handelt sich hier um eine reiche Gesellschaft, die sich selbst im Multikulturalismus, notwendigerweise dem islamischen und in dessen Korrelat, der politischen Korrektheit, verleugnet. Ich bedaure gleichwohl, daß ich nicht von den Opfern gesprochen habe, ich, der sich den Opfern dennoch aufmerksamer widmet als dem Peiniger. Die Gespräche, die ich mit norwegischen Journalisten führen konnte, boten keine Möglichkeit, die Mißverständnisse zu erhellen, die mein Text ausgelöst hat – das bedaure ich sehr. Es ist wahr, daß die Ereignisse infolge des Gerichtsprozesses noch zu präsent waren. Es ist dennoch wichtig, den Fall Breivik auch auf andere Weise zu durchdenken als allein durch Wehklage.

Breivik tötete gezielt Zivilisten, er verstieß damit gegen den christlich-abendländischen Krieger-Kodex, welcher Angriffe auf Nicht-Kombattanten als ehrlos erachtet.

Millet: Ja, aber ist er wirklich Christ? In seiner kriminellen, grob vereinfachenden Logik ist es die bürgerliche Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, die verantwortlich ist. Daher gibt es für ihn keine Kämpfer oder Nicht-Kämpfer. Für ihn gibt es nur Schuldige, die er ohne Gerichtsverfahren exekutiert. Das ist der Punkt, an dem er ins terroristische Verbrechen abgleitet.

Breivik ging gegen Minderjährige vor, als erwachsene Polizisten Utoya erreichten, gab er sofort auf. – Auf dem Schulhof haben wir solche Typen als feige bezeichnet.

Millet: Nein, es waren keine Kinder und Jugendliche, sondern junge Erwachsene, was nicht dasselbe ist. Sie waren in die politische Handlung eingetreten. Andererseits gibt es bei Breivik etwas, was an ein verlorenes Kind erinnert.

Ich kann Ihnen nicht folgen.

Millet: Breivik zeigt etwa das Scheitern der vom Vater im Stich gelassenen Familie. Und es ist auch dieser Blickwinkel, aus dem heraus er uns Fragen stellt, zu einem Zeitpunkt, zu dem die homosexuelle Ehe dabei ist, den Grundgedanken der Abstammung in Abrede zu stellen. Das bedeutet, daß Sie vielleicht recht haben, man findet bei Breivik etwas von einem Kind, welches eine wirkliche Waffe findet und sich ihrer bedient.

Sein Handeln steht in jedem Widerspruch zum konservativen Instinkt der europäischen Kultur, Kinder zu schonen. Riecht es nicht vielmehr nach dem „ideologischen Zeitalter“, als plötzlich Weltanschauungsgründe formuliert wurden, warum auch Frauen und Kinder legitime Ziele seien?

Millet: Das ist tatsächlich die alte Logik der Ausrottung, die man im Frankreich der Revolution von 1789 während des Völkermordes in der Vendée fand, als die Armeen der Republik den Befehl hatten, alle zu töten, Frauen und Kinder, damit diese sich nicht fortpflanzen könnten. Und das betrifft in noch viel größerem Maßstab die Endlösung der Nazis.

Sie selbst haben als Freiwilliger im Libanon gekämpft und schrieben später den skandalösen Satz: „Ich habe ... auch Frauen, Greise, vielleicht auch Kinder“ (töten müssen).

Millet: Sie spielen auf den Anfang meines autobiographischen Buches „Das negative Bekenntnis“ an, in dem ich sage: „Ich war gefordert, Männer, Frauen, Greise und eventuell Kinder zu töten.“ Ich spiele hier mit einer Unschärfe in der Formulierung der französischen Redewendung, deren Interpretation gleichermaßen heißen kann „Ich war verpflichtet zu töten“ oder „Ich habe vielleicht getötet“. Die Kämpfe mit der Kalaschnikow finden zwischen Kämpfern statt, aber es ist möglich, daß Querschläger Zivilisten treffen, auch Bombardements zielen auf Kämpfer, aber sie lösen „Kollateralschäden“ aus, wie die Amerikaner es nennen. Was ich mit dieser sehr harten Formulierung ausdrücken will, ist, daß der Krieg eine andere Art von Verantwortlichkeit hat und die Frage nach Unschuld in den Hintergrund drängt. Dennoch hört sie nicht auf, mich zu quälen. Andererseits ist es schwer, in einer normalen Situation über etwas zu richten, was im Krieg geschehen ist. Im Libanon gab es in beiden Lagern vom Gewissen geleitete und ehrenhafte Kämpfer als auch Kriminelle.

Das heißt, Sie haben nie gezielt auf Kinder, Frauen oder Greise geschossen?

Millet: Nein, das habe ich nicht. Aber vergessen Sie nicht, daß auch Frauen unter den Kämpfern waren und daß mancher Fedayin zwölf oder dreizehn Jahre alt war, und daß Greise gefährlich und bewaffnet sein konnten. Die Palästinenser haben das Massaker im christlichen Damour verübt, Christen dagegen die Massaker von Sabra und Schatila – Taten, die ich selbstverständlich verurteile.

Sie haben Anders Breivik mit Mohammed Merah verglichen, der im März in Südfrankreich drei Soldaten und vier Juden erschoß. Wo sehen Sie da Gemeinsamkeiten?

Millet: Es sind Kriminelle, die die Schuld verbrecherischen Denkens zu Fragen der Nation und der Zivilisation tragen. Während Merah zum Dunstkreis des internationalen islamischen Terrorismus gehört und Breivik zur Dekadenz, die er anprangert, so sind doch beide das Symbol eines Bürgerkriegs.

Eines Bürgerkriegs?

Millet: Eines Bürgerkrieges, der noch nicht benannt wurde, weil das die Propaganda untersagt. Dennoch ist er real: Die französischen Vorstädte befinden sich in der Gewalt von Jugoslawen oder Libanesen, da hier das Gesetz der Republik von Immigranten und einheimischen Taugenichtsen, die keinerlei Wunsch zur Integration haben, zum Versagen gebracht wird. Wenn Sie bewaffnete Soldatenpatrouillen in der U-Bahn, auf Bahnhöfen, im Hof des Louvre sehen, glauben Sie das sei Disneyland? Nein, sie sind die Konsequenz des islamistischen Terrors und der passiven Anwesenheit der Moslems, die den Islamismus auf hiesigem Boden mehr oder weniger begünstigen.

Ist Multikulturalismus nicht eben einfach eine historische gesellschaftliche Wandlung?

Millet: Es ist in der Tat ein Wandel. Aber es besteht kein Anlaß zur Unterwerfung unter einen historischen Fatalismus. Stellen Sie sich vor, der Nazismus sei ein historischer Wandel und daß ich ihn nur deshalb akzeptieren würde! Multikulturalismus ist das Gegenteil von Geschichte, der geschichtlichen Fortentwicklung, er ist der Triumph des Verharrens im Gleichen, eine Zurückweisung der Geschichte. Verschleiern wir nicht das wahre Gesicht: Der Multikulturalismus ist nirgends gefährlicher als in seiner islamistischen Form. Es ist der die Eroberung suchende und terroristische Islam, der einen destabilisierenden Faktor für die Zivilisation darstellt, besonders deshalb, weil sich die moslemischen Immigranten in Europa in Millionen zählen.

Gesellschaften kommen und gehen. Warum sollte ausgerechnet diese Wandlung nun einen Niedergang darstellen?

Millet: Oswald Spengler hat das ausführlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts analysiert. Wir erleben das Ende einer Zivilisation, die ohne Zweifel müde ist, sie selbst zu sein, die fasziniert ist vom amerikanischen Modell und geplagt von posttotalen und postkolonialen Schuldgefühlen. Aber es sind die Europäer selbst und nicht die Immigranten, die verantwortlich sind für diesen Niedergang. Einerseits nicht mehr man selbst sein zu wollen, es sich gleichzeitig aber auch nicht zu trauen, führt dazu, gar nicht mehr zu „sein“ – man vergißt sich, man verachtet sich und man wird von den anderen Zivilisationen verachtet.

Offenbar haben die Europäer aber kein Gespür für diesen Niedergang?

Millet: Die Europäer beklagen permanent ihr Schicksal. Spricht man zu ihnen von Zivilisation, antworten sie mit Ökonomie, sozial und ethisch, das heißt mit alltäglichstem Materialismus. Sie sind verfehlte Amerikaner so wie Breivik ein verfehlter Autor ist. Von dem Moment an, wo man sich selbst verleugnet, egal ob Franzose, Deutscher oder Europäer, begibt man sich in eine freiwillige Sklaverei, vollzieht die Unterwerfung der Gegenwart unter die Irrealität. Man selbst zu sein wird eine Art Schändlichkeit.

Also fehlt es uns an Würde?

Millet: Würde ist das Empfinden für das, was man denen schuldet, die uns vorausgegangen sind, deren Erbe, die europäische Zivilisation, wir übernommen haben und deren Wurzeln christlich sind. Hat nicht Georges Bernanos gesagt, daß die moderne Zivilisation eine Verschwörung gegen jedwede Art von geistigem Leben ist?

Halten Sie die Gegenwartsliteratur für dekadent, weil sie sich mit diesen Themen nicht beschäftigt?

Millet: Die Gegenwartsliteratur kann sich damit nur unter der Maßgabe der politischen Korrektheit beschäftigen. Zu viele Journalisten fürchten die Justiz, falls sie sich solcher Themen annehmen. Die Darstellung des Ausländers, des Migranten, des illegalen Einwanderers muß explizit stark positiv erfolgen. Sagen Sie etwas anderes, laufen Sie Gefahr, als Faschist, ein anderes Wort für Rassist, beschimpft zu werden, was grotesk ist. Die Zensur hat ihre Form geändert: ständige Selbstzensur und Unterwerfung unter die Welt-Ideologie, post-rassistisch, post-menschlich. Die wenigen Intellektuellen, die es wagen, das Gegenteil zu denken – Alain Finkielkraut, Renaud Camus, Robert Redeker, ich selbst – werden vom größten Teil der Medien gehaßt.

„Antirassismus“ haben Sie als „militanten Arm“ des Multikulturalismus bezeichnet.

Millet: Der Antirassismus ist in Frankreich ein ideologischer Apparat des Staates, ein Instrument der Unterdrückung. Und Multikulturalismus bedeutet Massenimmigration, die ich als Invasion sehe – oder wie Renaud Camus es formulierte: als „große Auswechslung“ –, und den Islam als permanente Bedrohung, daß die seitens der Immigration generierten Probleme alltäglich und oftmals gewalttätig werden. Wie leben mit Millionen Menschen, die Ihrer Kultur abhold sind und Sie das täglich wissen lassen?

Was wäre Ihr Gegenvorschlag?

Millet: Man muß zur republikanischen Verschmelzung zurückkehren, zur Französisierung – so wie man auch von Amerikanisierung in den USA spricht. Ich finde es normal, daß wer emigriert auch versucht, mit diesem Land zu verschmelzen. Man muß seiner Herkunftskultur entsagen, kann nicht alles auf einmal sein: Türke und Deutscher, Algerier und Franzose. Man muß wählen. Der Multikulturalismus ist die Ablehnung dieser Wahl. Die Wahl erfordert eine Annäherung, die die Kultur, des Landes, in das man emigriert, wertschätzt. Es stimmt, die Nichtigkeit und Abgeschmacktheit der aktuellen französischen Kultur schreckt Immigranten ab, sich anzupassen. Immerhin: Alle Welt will amerikanisch werden, das Problem ist nur, es ist die Profankultur Amerikas, mit der man sich identifiziert – mit Bruce Willis, nicht mit Faulkner, mit Disneyland statt dem Museum of Modern Art.

Welche Zukunft sehen Sie für Europa?

Millet: Europa ist ein abgetakeltes Amerika, alsbald bevölkert von ungebildeten Bürgern und Konsumenten. Ich erkenne mich darin nicht wieder, wähle innere Emigration, geistiges Exil oder Widerstand – der„Waldgang“ von Jünger oder der „Partisan“ von Carl Schmitt. Ich bin sehr allein. Ich beabsichtige, aus dieser Einsamkeit eine Stärke zu machen.

 

Richard Millet, der Schriftsteller und ehemalige Verlagslektor veröffentlichte wiederholt provozierende Essays, zuletzt „Antirassismus als literarischer Terror“ und „Phantomsprache. Versuch über die Verelendung der Sprache mit einer Literarischen Lobrede auf Anders Breivik“, der in Frankreich vor wenigen Wochen einen Skandal auslöste, der zu Millets Ausschluß aus dem Literaturkomitee des größten französischen Verlagshauses Gallimard führte (JF 40/12). Dort hatte Millet zum Beispiel 2006 die Veröffentlichung des Romans „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell mitverantwortet. In Deutschland erschienen bislang zwei Romane aus Millets Feder: 1998 „Die drei Schwestern Piale“, den die Süddeutsche Zeitung als „Kunstwerk von seltener Geschliffenheit und Eleganz“ pries, und 2001 „Der Stolz der Familie Pythre“, den die Zeit für seine „klare und leuchtende Sprache“ lobte (beide Alexander Fest Verlag). Geboren 1953 in Südfrankreich, lebte Millet als Kind sechs Jahre im Libanon und nahm später, 1975 bis 1976, als Freiwilliger auf seiten der christlichen Milizen am Bürgerkrieg teil.

Foto: Attentäter Anders Breivik vor Gericht (oben rechts) und Mohamed Merah vor seiner Tat: „Symbole eines Bürgerkrieges, der nicht benannt wird, weil die Propaganda es untersagt. Dennoch ist er real.“

 

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