© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/12 30. November 2012

Pankraz,
M. Heidingsfelder und das System Pop

Äußerst hochgestochen und ambitiös kommt ein Buch einher, das der endlich passende Schlüssel zum Verständnis der sogenannten Popkultur zu sein begehrt: „System Pop“ von Markus Heidingsfelder (Kadmos Kulturverlag, Berlin 2012, broschiert, 560 Seiten, 34,80 Euro). Der Autor fühlt sich als „Systemtheoretiker“ in der Nachfolge von Niklas Luhmann, denkt aber – im Gegensatz zu seinem Meister – nicht im entferntesten an Abbau von Komplexität, türmt statt dessen ein Theorem über das andere, so daß einem nur noch schwindlig wird.

Pop sei, so wird der Leser belehrt, ein „Unschärfephänomen“, das „Esperanto der Gegenwartskultur“, eine „kaum entwirrbare Gemengelage von Musik- und Körperstrategien, von Subkulturen und Kommerz, von Selbst- und Fremdbeschreibungen“. Außerdem erfährt man noch, daß Pop „das Teilsystem einer Gesellschaft“ sei, „das sowohl an deren gesamter Reproduktion wie an seinem eigenen Erhalt arbeitet“. Dergleichen könnte man faktisch von allem und jedem behaupten, zum Beispiel von einem Rasierapparat, der sowohl an kontinuierlichem Bartwuchs wie auch an seiner eigenen Haltbarkeit interessiert ist.

Gibt es überhaupt „den“ Pop. Ist „der“ Pop vielleicht bloß eine Erfindung professioneller Kulturkritiker, die sich unterhalten beziehungsweise sich mit Büchern wie „System Pop“ habilitieren wollen? Es gibt zweifellos die Popmusik, die sich sowohl von der klassischen E-Musik wie von der traditionellen U-Musik (Volkslieder, Schlager) anhebt. Es gibt die Pop-art, es gibt eine „Popliteratur“ (Jack Kerouac, Allen Ginsberg, Rolf Dieter Brinkmann, Benjamin von Stuckrad-Barre). Aber läßt sich das alles unter dem Kürzel „Pop“ zusammenfassen? Werden da nicht Äpfel mit Birnen und Zuckermelonen mit Wassermelonen zusammengeworfen?

Selbst innerhalb der einzelnen Disziplinen stoßen sich die diversen Hervorbringungen oft eher voneinander ab, statt zusammenzugehen. Was haben etwa die Siebdrucke von Andy Warhol mit dem Alltagsgerümpel eines Claes Oldenburg zu tun, was der Neorealismus eines David Hockney mit den Comic-Bildern eines Roy Lichtenstein? Und in der Literatur liegen Welten zwischen Rolf Dieter Brinkmann und Benjamin von Stuckrad-Barre, von Rainald Goetz zu schweigen, der von der Kritik ja ebenfalls noch als Popliterat apostrophiert wird.

In der Popmusik liegen die Dinge etwas anders. Auch hier haben sich die Richtungen zwar ins schier Unendliche ausgefaltet, es wimmelt von immer neuen Stilbezeichnungen (Beat. Rock, Twist, Surf, Reggae, Wave und, und, und), aber der Stil selbst ist doch überall derselbe geblieben. Melodie und Motiv-entfaltung, auch anspruchsvolle Rhythmik, sind bis aufs Minimum reduziert, statt dessen regieren ein bis zur Eintönigkeit strapazierter Grundrhythmus – und Lärm. Lärm und noch einmal Lärm, welcher sich im Gesang meist als pures, völlig unhöfliches Phrasengebrüll fortsetzt.

Es wird nicht mehr an Verstand und Nachdenklichkeit appelliert, denn für Sänger und Publikum gibt es nichts mehr nachzudenken, alles versteht sich von selbst und ist längst festgelegt. Auch gibt es nichts mehr zurückzuhalten, „let it be!“ lautet nun schon seit vierzig Jahren die alles bestimmende Parole, es wird nichts mehr sublimiert und durch die Blume gesagt, nur noch breitmäulig „zur Sache selbst“ geschritten. Man appelliert an Gefühlsregungen aus der untersten Schublade des Kleinhirns, und das Toben der zuhörenden Masse kommt dementsprechend von ganz unten.

Die Gelehrten streiten sich darüber, ob es sich da um ein rein destruktives Sozialphänomen handelt oder nicht vielmehr um ein kompensierendes, letztlich stabilisierendes. Popmusik sei, das die Meinung der Kompensationstheoretiker, die gleichsam natürliche Reaktion auf das Übermaß an Sozialzwängen, das die moderne Industriegesellschaft für den einzelnen wie für ganze soziale Gruppen bereithalte. Bei den großen Popkonzerten würden destruktive Energien sowohl freigesetzt wie auch in Kanäle geleitet. Die entfesselten Aggressionen würden gewissermaßen pazifiziert, nämlich in bloßen Schall und Widerhall aufgelöst.

Nicht gestritten wird darüber, daß sich die Popmusik allerorten zu einem erstrangigen, ja ungeheuren Wirtschaftsfaktor entwickelt hat, der riesige Gewinne abwirft und zahllose Nebenzweige ausgetrieben hat, wo man ebenfalls sehr gut leben kann. Speziell zwischen Popmusik und den modernen Medien hat sich eine enge Symbiose herausgebildet.Viele Protagonisten der ersteren steigen zu medialen Idolen für die Jugend auf, werden einflußreich in Mode und Lebensart, Dichtung und bildender Kunst, ja sogar in den Sphären der hohen Politik. Ihre privaten Gewohnheiten und Macken füllen ganze bunte Magazine.

Wohin das Ganze führen wird, ist nicht leicht abzusehen. Zu beobachten ist zur Zeit eine Regionalisierung und „Vervolklichung“ der Popmusik, deren Globalisierungsphase schon vor längerem (erfolgreich) zu Ende ging. Ihre ersten Antriebe, Parolen und Praktiken stammten ja durch die Bank aus den USA, sie haben sich jedoch schnell global durchgesetzt und werden nun mannigfach variiert, den örtlichen Musik- und Tanzbräuchen angepaßt, verflechten sich teilweise mit ihnen. Aus Pop wird vielerorts „Folk“ – eine Metamorphose, die eine sehr interessante Farbigkeit verspricht.

Ob das aber ausreichen wird, um das internationale Kulturleben auf Dauer wieder perspektivenreicher zu gestalten und der allgegenwärtigen Gleichmacherei zu begegnen? Pankraz ist eher skeptisch, denn dazu wären Leistungen einer ausgesprochenen Hochkultur mit elitären Ambitionen nötig. Aber der „Pop“ ist nun einmal ein ausgesprochenes Phänomen der Massenkultur, und die ist antielitär, will sich keine Mühe geben, will alles gleich und sofort haben.

Der Pop, so Markus Heidingsfelder in seinem Buch unerwartet deftig, sei neben vielem anderen eben auch dieses: „Schund, Schund und nochmals Schund“. Schund aber heißt laut Lexikon: Ausschuß, nutzloses Zeug, Wegwerfware.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen