© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/12 30. November 2012

Dienst am Nächsten
Seelsorger im Nationalsozialismus: Eine Dokumentation über den Zuchthaus- und Lagerpfarrer Emil Viereck
Thomas Kuzias

Im Falle des Krieges erhebt „das kälteste aller Ungeheuer“ (Nietzsche), der Staat, Anspruch auf das Leben seiner Bürger, indem er sie als Soldaten zwingt, für ihn oder das ihm zugrundeliegende Existenzrecht einer – auch ihre Soldaten umfassenden – geschichtlichen Gemeinschaft einzustehen. Genügt der einzelne diesem ehernen Anspruch nicht, versagt er dieser (Wehr-)Pflicht gegenüber, wird sein bewahrtes Leben einer Gerichtsbarkeit unterstellt, deren Gerechtigkeit nur zwischen Toten und Helden einerseits und Feiglingen andererseits unterscheiden kann.

Besonders durch den Zweiten Weltkrieg muß diese archaische Dichotomie durch Dauer, allseitige Härte und Komplexität der ideologisch bedingten Kriegsführung als endgültig widerlegt gelten. Gleichwohl bestimmte sie die Militärgerichtsbarkeit nicht nur auf deutscher Seite. In diesem Umfeld seinen Dienst am Nächsten (Caritas) auszuüben, war im Dritten Reich für Pfarrer Emil Viereck (1893–1950) innere Pflicht und umfassende Aufgabe.

Der Herausgeber der Dokumentation über Viereck, von dem Pfarrer selbst noch konfirmiert, fand im Jahre 2006 über 1.100 Briefe auf dem Dachboden des Pfarrhauses in Boberow/Brandenburg; ihr Zustand war bisweilen schon bedenklich. Da sich keine Interessenten (eine Anfrage bei der Adenauer-Stiftung blieb gar gänzlich unbeantwortet) und kein Verlag fanden, Müller aber den Wert des Fundes erkannte, entschloß er sich zur Veröffentlichung auf eigene Faust.

Das Anliegen Manfred Müllers als Heimatforscher ist es, an Vierecks Wirken als Zuchthaus- und Lagerpfarrer zu erinnern und den Nachgeborenen die bisweilen ausgesprochen detailliert einsehbaren Schicksale zahlreicher Gefangener als humanitäre Mahnung nahezubringen. Da die Strafgefangenen im letzten Kriegsjahr offiziell nur noch alle vier Monate Briefe („Terminbriefe“) schreiben durften, übernahm Viereck einen Teil der Korrespondenz und umging somit die Sperrzeit; die Namen der Gefangenen und ihrer Angehörigen wurden anonymisiert. Es ergeben sich nicht wenige interessante Einsichten wie beispielsweise in den Bereich der Straftatbestände, die von Leichenfledderei, Plünderung, Betrug und Mord über Luftschutzübertretung, ideologische Diversion („kommunistische Gedankengänge“), Hochverrat und Beihilfe zur Wehrdienstentziehung bis Selbstverstümmelung und Fahnenflucht reichten; auffällig ist der hohe Anteil an Straftatbeständen gemäß Paragraph 175 (sexuelle Handlungen zwischen Männern).

Müller bringt die Briefdokumente in ihrer originalen Form und versagt sich jeglichen Eingriff in die Schreibweise, wodurch erkennbar wird, daß eine große Anzahl der Betroffenen aus einfachsten Verhältnissen kam. Aufgrund dieser Volks-Orthographie hört der Leser aus einer Reihe von Briefen den ostpreußischen oder pommerschen Dialekt ihrer Verfasser herausklingen; ein schöner Nebeneffekt der Edition.

Häufig versuchten verurteilte Soldaten, wieder „eingereiht“ zu werden und so durch Frontbewährung ihre Ehre zurückzugewinnen; politischen Gefangenen drohte nach Verbüßung ihrer Strafe während der Kriegsjahre die sogenannte „Sicherheitsverwahrung“ in einem Konzentrationslager. Über das Konzentrationslager Buchenwald erfährt man beispielsweise: „Geldsendungen sind zulässig […] Es kann im Lager alles gekauft werden. Nationalsozialistische Zeitungen sind zugelassen“ (Auszug aus der Lagerordnung).

Erschütternd sind die in zahlreichen Briefen sich findenden detaillierten Schilderungen der Zerstörung Dresdens und ihrer unmittelbaren Folgen; schon am 27./28. Februar wurden die Toten auf 120.000 geschätzt. Lobend wird aus Dresden über den vorbildlichen Einsatz von französischen Kriegsgefangenen bei Tag und bei Nacht in der zerstörten Stadt berichtet. Das Urteil Emil Vierecks, der in keinem Sinne Nationalsozialist war, lautete: „Der Tag wird ja auch kommen, an dem dem Engländer all seine Untaten heimgezahlt werden!“ Und er war zutiefst erschüttert, „daß die Gangster nun auch nicht vor dem schönen Dresden Halt machen.“

Auch das Geschehen an der Ostfront kommentierte er: „Ergriffen steht man immer vor dem Einsatz u. Opfer! Von den übrigen Kameraden werden Sie den Moloch ‘Sowjet’ geschildert bekommen haben. Jeder Kampfteilnehmer hat sich selber ein Heldenlied geschrieben, das nach Kriegsende von der Heimat gebührend verwendet wird!“ (6. September 1944).

Daß derartige Ansichten zur bisweilen naiv-moralisierenden Haltung des Herausgebers in einer gewissen Spannung stehen, wird der historisch interessierte Leser übergehen können. Das Verdienst Manfred Müllers liegt in der zuverlässigen Bereitstellung authentischer Dokumente, die differenzierte Einblicke in konkrete Zusammenhänge gestatten.

Manfred Müller (Hrsg.): Dokumentation Pfarrer Emil Viereck. Seelsorger an beiden Zuchthäusern in Waldheim/Sa und vorübergehend bei den Strafgefangenenlagern im Emsland. Selbstverlag, o. O., o. J. [Schwerin], 421 Seiten, 30 Euro

Interessenten wenden sich direkt an Manfred Müller. Telefon: 03 85 / 2 00 04 03

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