© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/12 30. November 2012

Der Flaneur
Auf dem Dorffest
Ellen Kositza

Schon so viele Jahre lebt man in diesem Dorf. Ein Jahrzehnt ist längst um! Schon so viele Feste hat man mitgefeiert. Sich ungefragt Bier ausgeben lassen, Sekt, Schnäpse. Hat manches Gläschen heimlich unterm Tisch ausgekippt. Hat fast jeden Tanz abgewehrt, um die Schulter gelegte Arme abgeschüttelt und dabei gelacht. Hat versucht, kecke Fragen keck zu beantworten. Man ist ja nicht so! Und doch bleiben Unsicherheiten: Lacht man über Zoten? Über welche nicht? Grinst man dann, halb höflich, halb verächtlich? Geht man? Mit einer Ausrede, stumm?

Erneut ist es enorm bier- und weinselig, ein Dutzend dorffremde Anverwandte ergänzen die Feiergesellschaft im beheizten Zelt. Neben mir ein Bruder des Schwagers der Nichte, er hat einen Karton Campari mitgebracht, die Flaschen sind bereits geleert. Der Enkel des Jubilars hat Ständchen auf dem Keyboard zum besten gegeben. Eher unschön, warum aber den herzhaften Applaus versagen?

Der Bruder des Nichtenschwagers textet mir rauchend Kommentare ins Ohr, ich verstehe Bahnhof und nicke lachend. Dann erhebt er sich und nimmt den Platz am Keyboard ein. Fährt alles auf, was das Gerät zu bieten hat. Ein Gassenhauer jagt den nächsten, Schlager an Schlager, die Melodien aufs kitschigste überdehnt. Den Zuhörern gefällt’s, Schunkeln und Mitgrölen bis zum Gehtnichtmehr! Dieser Mann, Kippe im Mundwinkel, ist in seinem Metier. Hin und wieder schaltet er den Kasten auf Automatik, holt sich einen Gast von den Bänken und tanzt mit großer Geste. Später stöpselt der begnadete Alleinunterhalter das Mikro ein und singt Textfetzen mit. Keine Gnade!

„Was ist das eigentlich für ein Typ?“ – „Och, der kann sich so was leisten. Der ist doch Professor für K. in J.!“ Klar! Der Professor, was sonst! Immerhin hat er Kondition. Noch im Bett höre ich ihn „musizieren“.

Am nächsten Tag wird das Weltnetz befragt. Es gibt ihn. Mit Bild, an der bezeichneten Uni, mit besagtem Rang. Interessantes Fachgebiet. Über Leidenschaften schweigt die akademische Visitenkarte.

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