© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/12 07. Dezmber 2012

Zwischen Pest und Cholera
Ägypten: Präsident Mursis Machtspiele gefährden die Gewaltenteilung / Furcht vor neuer Diktatur steigt
Thorsten Brückner

Mursi hat alle Staatsgewalt an sich gerissen und sich selbst zu Ägyptens neuem Pharao ernannt. Das ist ein schwerer Schlag für die Revolution, was noch ernste Konsequenzen haben könnte“, twitterte der ehemalige Chef der Internationalen Atomenergiebehörde und das Gesicht des liberalen Widerstands gegen das Mubarak-Regime, Mohammed el- Baradei.

Die Generation Tahrir, die Ende 2010 die Proteste gegen Mubarak organisierte, fühlt sich vom neuen Präsidenten Mohammed Mursi verraten. Dieser hatte am Tag nach der erfolgreichen Vermittlung eines Waffenstillstands zwischen Israel und der Hamas und seiner Selbstinszenierung als neuer starker Mann in der Region zum Schlag gegen die heimische Judikative ausgeholt.

Nachdem die Gewaltenteilung am Nil bereits nach der Auflösung des Parlaments durch den Verfassungsgerichtshof im Juni starke Risse bekommen hatte und im Zuge dessen die gesetzgeberische Gewalt auf den Präsidenten übergegangen war, war Mursis jüngster Schachzug vor allem dazu gedacht, dem Gericht zuvorzukommen. War dieses doch gerade im Begriff, den von Islamisten dominierten verfassunggebenden Rat aufzulösen. Am vergangenen Sonntag wollten die Richter hierüber ihr Urteil fällen. Mursi war ihnen am Freitag in die Parade gefahren, als der Rat den Entwurf für die neue Verfassung befürwortete und der Präsident ein Referendum über den Entwurf für den 15. Dezember ankündigte.

Auch unter dem Druck protestierender Islamisten vor dem Gerichtsgebäude weigerten sich die Richter, die nach Mursis Dekret formal ohnehin entmachtet waren, ein Urteil zu sprechen. Ob sie wie bisher üblich den Referendumsprozeß beobachten werden, blieb zunächst unklar. Der Sonntag könnte somit den Auftakt für einen Streik der Justiz bilden. Damit würden sich die 21 obersten Richter den bereits laufenden Arbeitsniederlegungen anderer Gerichtshöfe anschließen. Zahlreiche Richter wurden noch von Mursis Vorgänger Mubarak ernannt und gelten als Kritiker der Islamisten.

Mursi hat zugesichert, nach Inkrafttreten einer neuen Verfassung seine totalen Vollmachten wieder abzugeben. Die liberalen Aktivisten vom Tahrir-Platz stehen aus ihrer Sicht bei der Abstimmung nun vor der Wahl zwischen Pest und Cholera. Entweder sie stimmen für den Entwurf und legitimieren so eine moderat islamistische Verfassung oder sie lehnen ab und erlauben so dem Präsidenten, weiter mit diktatorischer Vollmacht zu regieren.

Das Militär hat sich bisher aus dem Konflikt herausgehalten. Nach der Entmachtung des Militärrates unter General Tantawi im August scheinen die Militärs, die sich 1953 an die Macht geputscht hatten und bis zu Mubaraks Ende im Land der Pyramiden herrschten, auf die Sicherung der letzten Reste ihres Einflusses bedacht. Außenpolitisch ziehen Mursi und das Militär längst an einem Strang. Auch innenpolitisch eint sie der Wunsch nach Stabilität. Während Liberale vor allem mangelnde Berücksichtigung von Frauenrechten und fehlende religiöse Neutralität der neuen Verfassung kritisieren, sorgte allein schon die Kontinuität ägyptischer Verfassungsrechtstradition für einen Entwurf, über den Kritiker bereits sagen, er hätte auch von Mubarak stammen können.

Foto: Weiblicher Anti-Mursi-Protest in Kairo: Sowohl die Anhänger als auch die Gegner des neuen Präsidenten Mohammed Mursi bringen Zehntausende auf die Straßen – Straßenschlachten sind keine Seltenheit

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