© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/12 14. Dezmber 2012

Pressekodex
Eine Zensur findet statt
Claus Schülke

Schon seit Jahren erscheinen in der Berichterstattung fast aller Medien über Straftaten mit Beteiligung von Ausländern seltsam diffuse Begriffe rund um Tat- und Täterbeschreibung wie etwa „Ehedrama“, „Ehemann“, „Beziehungstat“, „Berliner“, „jugendliche Banden“, seltener auch noch „Großfamilie“ „Südländer“ und dergleichen. Jeder Leser und Zuschauer kennt das – jüngstes Beispiel sind „holländische Amateurfußballer“ (siehe auch Seite 17).

Der Grund dafür ist in der Öffentlichkeit aber nach wie vor kaum bekannt: Das ist der vom Deutschen Presserat schon im Jahre 1973 herausgegebene und feierlich dem damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann übergebene Pressekodex, an den sich seitdem alle Medien zu halten haben. Ziffer 12 (Diskriminierung) dieses Regelwerks bestimmt, daß niemand wegen seines Geschlechts, einer Behinderung oder seiner Zugehörigkeit zu einer ethnischen, religiösen, sozialen oder nationalen Gruppe diskriminiert werden darf.

Diese Regelung ist zwar redundant, um nicht zu sagen, eigentlich überflüssig. Denn Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes bestimmt unter anderem genau dieses und übrigens wesentlich umfassender (beispielsweise regelt er, daß einerseits auch niemand wegen jener und anderer Eigenschaften bevorzugt und andererseits niemand wegen seiner politischen Anschauungen benachteiligt werden darf). Infolge der sogenannten Drittwirkung der Grundrechte gilt dieser Artikel als unmittelbares Rechtsgebot auch für die Medien und deren Mitarbeiter. Aber gut, die Wiederholung grundgesetzlicher Gebote in untergesetzlichen Regelwerken schadet ja nie.

Nun gibt es inzwischen eine einzige, Jahre später aufgestellte „Ausführungsrichtlinie 12.1“ dazu. Dort ist, und spätestens jetzt wird es interessant, folgendes bestimmt: „In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, daß die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.“

Während das Diskriminierungsverbot Ziffer 12 eine auch gesellschaftlich anerkannte Selbstverständlichkeit ist, ordnet die Ausführungsrichtlinie – offensichtlich das einzige, was dem Presserat zum Diskriminierungsverbot bis heute eingefallen ist – bezüglich dieser Täterdetails und unter der dort genannten Voraussetzung das Schweigen der Presse an. Er markiert damit ein deutlich gestörtes Verhältnis der Medien zur eigenen Wahrhaftigkeit einerseits und zum Bürger andererseits. Doch eins nach dem anderen.

Diskriminierung bezeichnet nach heutigem Sprachgebrauch im politisch-soziologischen Raum allgemein eine gruppenspezifische Benachteiligung oder Herabwürdigung von Gruppen oder Individuen. Der von der Berichterstattung Betroffene selbst aber begreift seine eigene Herkunft/Staatsangehörigkeit naturgemäß nicht als ihn herabwürdigenden oder benachteiligenden Umstand. Das gleiche gilt für die Gruppe beziehungsweise die Minderheit insgesamt: Vietnamese, Franzose, Libanese, Türke, Deutscher usw. sind für das Individuum und die jeweilige Gruppe – zu Recht – positiv besetzte Begriffe, und das ist auch gut so.

Deshalb kann den Täter oder Verdächtigen allein die wahrheitsgemäße Erwähnung insbesondere seiner Nationalität oder Herkunft nie diskriminieren, dies natürlich nur so lange nicht, wie über die Sachverhalte im übrigen nur wahrheitsgemäß, insbesondere ohne daran anknüpfende unwahre oder unsachliche Zusätze wie etwa Verunglimpfungen, Verächtlichmachung, üble Nachrede und dergleichen berichtet wird, was den Medien wohl auch weitgehend gelingt.

Wenn das alles so ist, dann fehlt der Ausführungsrichtlinie 12.1 der innere Bezug zur Leitlinie Ziffer 12. Sie hat in Wahrheit nichts mit Diskriminierung zu tun, sie ist vielmehr ein unter dem kostbaren Mantel des grundgesetzlichen Gleichbehandlungsgebots verstecktes, infames Instrument zur Erzwingung medialer Selbstzensur. Medien sind nach dem freiheitlich-demokratischen Selbstverständnis westlicher Demokratien zuallererst und uneingeschränkt der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit in der Berichterstattung verpflichtet; nicht von ungefähr heißt es in Artikel 5 Absatz 3 GG: „Eine Zensur findet nicht statt.“ Staatlich veranlaßte journalistische Lüge zu politischen Zwecken – seit jeher Inbegriff der Zensur – ist als eines der wichtigsten Werkzeuge totalitärer Systeme nicht nur verwerflich, sie ist schlicht verboten. Darüber besteht an sich kein Streit. Nichts anderes hat für staatlich geförderte oder auch nur gebilligte, durch nichtstaatliche Institutionen auferlegte Verpflichtung zur Lüge zu gelten. Auch das sollte unstrittig sein.

Nun ist das Verschweigen, das Beschönigen, das Verfälschen, das Verschleiern – wohlgemerkt – sachbezogener Tatsachen durch Medien, sofern es vorsätzlich oder gar systematisch geschieht, auch nichts anderes als Lüge, zumal nicht ernsthaft bestritten werden kann, daß in der konkreten Situation ausländische Nationalität und Herkunft in diesem Sinne sachbezogene Umstände von Straftaten sind und zugleich für die Öffentlichkeit von hohem Informationsgehalt; nicht zufällig sagte Bundeskanzlerin Merkel in einer Videobotschaft am 18. Juni 2011: „Wir müssen akzeptieren, daß die Zahl der Straftaten bei jugendlichen Migranten besonders hoch ist.“ Der von ihr angesprochene extrem hohe Prozentsatz der Beteiligung bestimmter Gruppen an schweren Gewalt- und Tötungsdelikten beunruhigt nicht nur die Bevölkerung, die inzwischen schon bei bloßer Verwendung des Worts „Messer“ zu Deutungen gelangt – dieses Problem muß auch und zuvorderst im öffentlichen Diskurs aufgearbeitet werden, insgesamt mit dem Ziel, mit rechtsstaatlichen Mitteln und sozialverträglich zur Verbesserung dieser Zustände, zur Reduzierung dieser Straftaten zu gelangen. Zu diesem Diskurs gehört unverzichtbar die ungeschönte, uneingeschränkte, dabei aber immer sachlich bleibende öffentliche Berichterstattung. Der nur für den Dienstgebrauch bestimmte ungeschminkte Report in die ministeriellen Amtsstuben ersetzt das nicht einmal ansatzweise.

Soweit laut Ausführungsrichtlinie 12.1 die Erwähnung von Nationalität oder Herkunft dann tatsächlich gegenüber Minderheiten „Vorurteile“ schüren sollte – hier ein unangebrachter Begriff, richtig wäre es, von ungerechtfertigter Verallgemeinerung zu sprechen –, wäre dem durch staatliche und nichtstaatliche Aufklärungsarbeit zu begegnen und, so-fern notwendig, durch administrative Maßnahmen, gegebenenfalls bis hin zur Anwendung des Strafrechts, aber stets nur gegenüber demjenigen, der in dieser Weise hervortritt. Niemals aber ist die staatlich abgesegnete journalistische Lüge das richtige oder auch nur ein zulässiges Mittel gegen das Entstehen etwaiger Vorurteile im genannten Sinne. Die Ausführungsrichtlinie verpflichtet genau zu dieser Lüge. Das ist das eine.

Das andere ist die hier deutlich werdende massive Verachtung des Lesers/Zuschauers als jemandes, der nicht reif sein soll für wahrhaftige Berichterstattung, weil er doch mit der Wahrheit nicht richtig umgehen könne und weil sie ihn zu einer falschen oder auch nur unkorrekten Sicht der Dinge verleite. Die Medien fühlen sich berufen, ihn davor zu bewahren. Der Grad journalistischer Wahrhaftigkeit soll am Ziel des Systems zur Erziehung des Bürgers zum „neuen Menschen“ ausgerichtet werden. Je mehr die Wahrheit diese Erziehung, die Einhaltung bestimmter, definierter gesellschaftlicher Normenkomplexe zu gefährden geeignet ist, um so mehr muß die Wahrheit unterdrückt oder ver-schleiert werden. Dem Bild eines mündigen und weltoffenen Bürgers entspricht das nicht, vielmehr dem des Untertans.

Und überhaupt, wo soll das enden? Was könnte den Presserat noch daran hindern, eine Ausführungsrichtlinie 12.2 zu beschließen, wonach bei der Berichterstattung über Korruption in Mitgliedsstaaten der EU die Identität des Staates nur dann erwähnt wird, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht?

Schließlich: Die Ausführungsrichtlinie und ihre von den selbstverpflichteten Medien mit den Jahren immer mehr und bis ins Absurde restriktiv gehandhabte Auslegung des Kriteriums „Sachbezug“ erweist immer deutlicher deren fast unbegreifliche Unterschätzung der kognitiven und intellektuellen Möglichkeiten der Bürger, insbesondere deren Fähigkeit, den Wahrheitsgehalt im oben genannten Sinne gelogener Berichterstattung schlicht anhand der erlebten Wirklichkeit zu ermitteln und danach den Inhalt des Berichteten zu definieren. Das haben sich die Macher und vor allem die Anwender der Ausführungs-richtlinie wohl so nicht vorgestellt.

Längst können die Bürger zwischen den Zeilen lesen – ganz so, wie es zu Zeiten der NS-Diktatur und des real existierenden Sozialismus zu DDR-Zeiten gelernt worden war. Längst wissen sie die Verschleierungen zu deuten, sie brauchen hierzu auch nicht einmal mehr die früher von der Presse bisweilen noch angegebenen ausländischen Vornamen der Täter. Längst ordnen sie Herkunft und Nationalität nur dann noch dem Täter abweichend von der selbst erlebten oder vom unmittelbaren persönlichen Umfeld berichteten Wirklichkeit zu, wenn nicht in den Medien ausdrücklich vom „deutschen Familienvater“, von „Wolfgang B.“ oder aber, wie bundesweit unisono und in seltsamer Inkonsequenz vor kurzem geschehen, beispielsweise ganz präzise von „vietnamesischen Banden in Berlin“ die Rede ist. Man muß sich zu diesen Berichterstattungen nur einmal die vieltausendfachen Leserkommentare in den dann fast immer schon kurze Zeit später geschlossenen Kommentarbereichen der großen Online-Medien anschauen. Die werden ob ihrer hilflosen Umschreibungsversuche oft nur noch verlacht.

Die Bürger sind so viel klüger, als viele etablierte Medien glauben. Die täten also gut daran, schleunigst umzukehren und zu wahrhaftiger Berichterstattung zurückzufinden. Dann wird ihnen der Leser und Zuschauer vielleicht mittelfristig auch wieder glauben.

www.presserat.info/inhalt/der-pressekodex/pressekodex.html

 

Dr. Claus Schülke, Jahrgang 1947, arbeitet als selbständiger Rechtsanwalt in Hamburg. Er promovierte auf dem Gebiet des Schiedsgerichtswesens.

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