© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/12 14. Dezmber 2012

Aus dem Zettelkasten von Stalins Bluthund
Die Tagebuchnotizen des sowjetischen Geheimdienstchefs Lawrentij Berija enthüllen brisante Details aus Kriegs- und Nachkriegszeiten / Streit um die Echtheit
Jürgen W. Schmidt

In Rußland wird derzeit heftig über die Echtheit von angeblichen Berija-Tagebüchern der Jahre 1941bis1953 gestritten, die der russische Historiker Sergej Kremlow 2011 in drei Bänden veröffentlichte und kommentierte. Der 1899 in Georgien geborene Lawrentij Berija war der langjährige Geheimdienstchef Stalins und wurde wegen seiner organisatorischen Befähigung immer wieder als „Troubleshooter“ zur Durchpeitschung wichtiger Projekte benutzt.

Berija war deshalb der allmächtige „Kurator“ des sowjetischen Atombombenprojekts und konnte die Anstrengungen der heimischen Wissenschaftler und Techniker sowie der sowjetischen Spionage auf dem Gebiet der amerikanischen und britischen Atomwaffenforschung wirksam koordinieren. Bezüglich der in Moskau aufgetauchten Tagebücher erscheint manches verdächtig, spielten doch anonym gebliebene Ex-Geheimdienstler dem als Berija-Experten bekannten Kremlow die angeblich aus sowjetischen Geheim(dienst)archiven stammenden Tagebücher nicht im Original, sondern nur in Abschrift auf Computerdisketten zu.

Bei einem konspirativen Treffen wurden Kremlow nur Fotokopien von Tagebuchseiten in der ihm gut bekannten Handschrift Berijas zum Beweis der Echtheit gezeigt. Verfaßt sind die mit vertraulichem Inhalt gefüllten Tagebücher sonderbarerweise nicht in der mingrelischen Muttersprache Berijas, sondern auf russisch. Auch weisen die Tagebücher seltsame, oft wochenlange Lücken auf, welche man sich entweder mit Dienstreisen oder totaler Arbeitsüberlastung Berijas oder aber mit der Herausnahme und Vernichtung besonders brisanter Tagebuchabschnitte während der Chruschtschow-Zeit erklären könnte.

Berija war nämlich 1953 in den Diadochenkämpfen nach Stalins Tod dem von ihm gröblich unterschätzten, bauernschlauen Nikita Chruschtschow (Tagebucheintrag vom 4. Dezember 1952: „Einfach ein Bauer. Verstand hat er keinen, aber er ist kein Schuft“) unterlegen und hingerichtet worden. Chruschtschow nutzte die Abrechnung mit Berija, um diesen einerseits als anrüchigen Verräter, andererseits aber als Stalins „Bluthund“ darzustellen und so von seiner eigenen, nicht minder großen Mitschuld an den Stalinschen Verbrechen abzulenken.

Es fehlen in den Tagebüchern beispielsweise, wenn sie denn echt sein sollten, jedwede Äußerungen Berijas zu der Massenerschießung der polnischen Offiziere unter anderem bei Katyn 1940, worüber Berija als NKWD-Chef unbedingt Bescheid wissen mußte. Auch für den historisch ziemlich wichtigen Zeitraum vom 10. Juni bis 20. Juni 1941, also die letzten anderthalb Wochen vor Kriegsausbruch, weisen die Tagebücher eine sehr seltsame Lücke auf.

Zu den Interna der sowjetischen Auslandsspionage, deren Fäden bei Berija zusammenliefen, erfährt man ebenfalls nichts, was nicht vorher schon bekannt gewesen ist. Allerdings darf man sich die Berijaschen Tagebücher nicht als ein literarisches Produkt, wie die zu einer künftigen Publikation vorgesehenen Tagebücher von Joseph Goebbels, vorstellen. Es handelt sich vielmehr um flüchtig hingeworfene Notizen, durchsetzt mit vielen Abkürzungen unter Verwendung von Spitznamen für die Akteure. Stalin taucht meistens unter seinem nur im engsten Freundeskreis gebrauchten georgischen Spitznamen „Koba“ auf.

Grobe historische Unrichtigkeiten haben allerdings bislang selbst die eifrigsten Kritiker der Echtheit jener Tagebücher nicht konstatieren können. Dagegen gibt es so manche Stellen, welche dem heftig umstrittenen Viktor Suworow, der mit seinem aufsehenerregenden Buch „Der Eisbrecher“ 1989 Stalins Kriegsziele und Handlungsabsichten für den kommenden Krieg beschrieb, durchaus recht zu geben scheinen. So beschrieb Berija schon am 27. August 1939 das Schicksal der damals noch zu Polen gehörenden ukrainischen „Gebiete, welche an uns übergehen werden“, weil er in die geheimen Abmachungen zwischen Hitler und Stalin zwecks des gemeinsamen Angriffs auf Polen eingeweiht war.

Über die weiteren Kriegsziele Stalins bezüglich Deutschlands, welches seit dem Polenfeldzug im September 1939 im Kampf gegen England und Frankreich stand, notierte Berija am 26. Februar 1940: (Stalin) „sagt, sollen sie sich nur gegenseitig in die Fresse hauen, aber wir schauen zu und kräftigen unsere Armee“. Zu diesem Zweck trug NKWD-Chef Berija nach Kräften bei, wie sein Tagebucheintrag vom 23. Oktober 1940 beweist: „Wir beenden die Filtration der (kriegsgefangenen) Polen und melden die Resultate an Koba (Stalin). Allgemeine Schlußfolgerung: Aus den Polen kann man selbständige Truppenteile bis (Kommandohöhe) Division aufstellen.“ Auch nach dem Zweiten Weltkrieg erweist sich Berija immer wieder eingeweiht in Stalins geheimste Pläne und herrschte am 3. Februar 1951 den diesbezüglich etwas naiven Raketenkonstrukteur Korolew an: „Du bist mir einer, Raketen für den Kosmos bauen! Für die (Atom)Bombe sollst du Raketen bauen!“

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen