© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/12 14. Dezmber 2012

Die Franzosen säbeln uns den Schwarzwald ab
Rückblicke auf die größte deutsche Umweltdebatte zwischen Anti-Atom-Bewegung und Klimawandel
Christoph Keller

Am 16. November 1981 erschien der Spiegel mit einem apokalyptischen Titel, der absterbende Bäume vor dem Hintergrund mächtig auswerfender Schlote zeigte: „Saurer Regen über Deutschland – Der Wald stirbt“. Internationale Beispiele setzten die dreiteilige Artikelserie fort: „Die Franzosen säbeln uns den Schwarzwald ab, und wir helfen den Engländern dabei, die skandinavischen Wälder auszurotten“, wurde ein Experte vom Umweltbundesamt zitiert. US-Wissenschaftler befürchteten sogar, im Jahr 2020 „dürfte aller physisch erreichbare Wald in den unterentwickelten Ländern abgeholzt sein“.

Damals hatte das „Waldsterben“ sogar den in den siebziger Jahren zur Massenbewegung angeschwollenen Anti-AKW-Protest in den Schatten gestellt. Die sich formierende grüne Partei hätte keinen besseren Wahlhelfer haben können. Der flächendeckenden Kampagne gegen das „Waldsterben“ verdankte sie 1983 ihren erstmaligen Einzug in den Bonner Bundestag – ausgerechnet mit der werbewirksamen Ausbeutung eines bis dahin urkonservativen Anliegens, dem Schutz des deutschen Waldes.

In der Rückschau eines vom forstwissenschaftlichen Fachbereich der Freiburger Universität durchgeführten, der „Waldsterbensdebatte“ gewidmeten Forschungsprojekts gibt es hingegen einige Gründe, dieses umweltpolitische Spektakel zumindest teilweise in die Geschichte falscher Ökoalarme einzuordnen. Denn ein eindeutiger wissenschaftlicher Nachweis der Kausalbeziehungen zwischen industrieller Luftverunreinigung und den damaligen Waldschäden steht bis heute aus. Der Hauptindikator für angebliche „Krankheitssymptome“, der Verlust eines größeren Teils der Nadeln und Blätter, die „Verlichtung der Baumkrone“, galt damals nicht allen Experten als Anzeichen eines sicheren Baumtodes. Und bis in die Gegenwart streiten Forstwissenschaftler über die Ursachen der 1980 vermehrt registrierten Entlaubungen, Vergilbungen und Bodenversauerungen. Inzwischen sind nicht weniger als hundert Ursachenhypothesen überprüft, ohne, wie der Projektleiter Roderich von Detten bilanziert (Freiburger Universitätsblätter, 196/12), „daß sich eine in der Fachwelt allgemein akzeptierte Erklärung durchsetzen konnte“.

Abgesehen von den Grünen gibt es jedoch noch zwei weitere Gewinner sowie einen Verlierer des „Waldsterbens“. Auf einen peinlichen Ansehensverlust nämlich laufen die Studien des Freiburger Forschungsverbundes für die Medien hinaus. Die Thematik bescherte hohe Auflagen und Quoten, daher fehlte die Regenbogenpresse sowenig wie Frauenzeitschriften, Seichtmagazine wie Quick standen Seit‘ an Seit‘ mit ARD und FAZ, wenn zu „Waldaktionen“ aufgerufen wurde. Der Anteil an eigenständiger journalistischer Recherche, so von Detten, sei dagegen eher gering gewesen. Ein „durchgängig apokalyptischer und emotionaler Tonfall“ verschleierte fehlendes Fachwissen. Daher verstieg man sich zu heute unsagbaren Vergleichen wie dem „ökologischen Holocaust“.

Allerdings waren die Medien nicht ausschließlich nur Konstrukteure einer nahen, fiktiven Katastrophe. Bei aller Phantastik und Kurzschlußlogik – dem deutschen, dem mitteleuropäischen Wald ging es damals wirklich schlecht. Nur darum profitierten als Gewinner der panischen Übertreibung auch die Forstwissenschaften, die seitdem einen enormen Zuwachs an Popularität und Einfluß, vor allem aber die Ausweitung ihrer finanziellen Möglichkeiten erfuhren. Zwischen 1982 und 1995 investierte die Bundesregierung in das der Waldschadensforschung gewidmete Aktionsprogramm „Rettet den Wald“ 456 Millionen D-Mark. Das Geld floß in diesem Zeitraum, wie von Detten auflistet, in stattliche 850 Forschungsprojekte. Letztlich habe die mediale Überreaktion also Druck auf die Politik gemacht und als Initialzündung zu einer „modernen forstlichen Ökosystemforschung“ gewirkt. Für die ökologische Grundlagenforschung ergab das einen Verwissenschaftlichungs-, Ausdifferenzierungs- und Modernisierungsschub.

Durchgesetzt habe sich eine breit gefächerte Waldökosystemforschung, die am Ende dem Wald zugute komme, obwohl die 1988 europaweit eingeführten Erhebungen über den Gesundheitszustand der Wälder auch gegenwärtig durch „Landwirtschaft, Individualverkehr und Klimawandel“ bedingte „problematische Veränderungen“ im Ökosystem Wald ausweisen, gegen die erhöhter Forschungsaufwand nicht schütze.

Der Wald sei jedenfalls ein weiterer unmitttelbarer Gewinner, da 1983 das mediale Trommelfeuer, die zahllosen Demonstrationen unter der griffigen Parole „Erst stirbt der Wald, dann der Mensch“, Waldbegehungen, das Erklettern von Schornsteinen und die Besetzung von Kraftwerken, die neue schwarz-gelbe Koalition unter Bundeskanzler Helmut Kohl zu umweltpolitischem Aktionismus zugunsten der grünen Lungen der Republik anspornten. Sie stellte die Luftverschmutzung, die für die „wahrscheinlichste Ursache“ der Waldschäden gehalten wurde, ins Zentrum ihres Maßnahmenkatalogs.

Bereits 1984 erschienen die ersten Waldzustandsberichte. Kraftwerksbetreibern wurden strenge Vorschriften zur Rauchgasentschwefelung auferlegt. Die EU-weite Einführung des Katalysators für Kraftwagen sowie bleifreies Benzin wurden auf den Weg gebracht. Es gelang eine beträchtliche Reduzierung der Luftverschmutzung, insbesondere des Schwefeldioxids (SO2) aus Kraftwerken und Auspuffgasen von Kraftfahrzeugen. Ein allgemeines Tempolimit auf Autobahnen widersprach allerdings dem bis heute die Regierungspolitik bestimmenden Mantra von der unabdingbaren Vereinbarkeit von Wirtschaftswachstum und Umweltschutz. Darum seien vom ersten Kohl-Kabinett auch die durch das „Waldsterben“ angestoßenen, „erst viel später aufgegriffenen“ Forderungen der Umweltbewegungen nach vermehrter Nutzung alternativer Energien ignoriert worden, heißt es in der Freiburger Studie.

Einen gewaltigen, die Gesellschaft der Bundesrepublik langfristig umkrempelnden Nebeneffekt dieser bis dahin „noch nicht dagewesenen Diskussion um Natur und Naturschutz“ wollen die Freiburger Forscher keinesfalls unter den Tisch fallen lassen: die Ökologisierung der Deutschen. Immer mehr Bundesbürger haben seit 1980 einen Bewußtseinswandel durchlaufen, der ihnen das Gefühl bescherte, sich als Teil eines übergreifenden ökologischen Systems zu verstehen und zu glauben, durch eigenes Verhalten zur „Gesundheit“ des Waldes und der Natur beitragen zu können.

Was indes, wie von Dettens Kollege Karl-Reinhard Volz anmerkt, leider nicht das Wald- und Naturwissen verbessert habe. Walderfahrung und angemessenes Wissen hätten nur ein Fünftel der deutschen Jugendlichen, und Grundschüler kennen im allgemeinen nur drei bis vier Baumarten.

Die aktuellen Waldzustandsberichte von Bund und Ländern: www.bmelv.de

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen