© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/13 / 04. Januar 2013

„Mein Bruder, dieser Terrorist“
Frankreich: Abdelghani Merah, Bruder des Toulouse-Mörders, will für die Gefahren des Islamismus sensibilisieren
Norbert Breuer-Pyroth

Seit dem 21. März 2012 finde ich keinen Schlaf mehr. Keine Nacht, keinen Tag, an dem mich nicht die Opfer von Mohamed umtreiben. Wie könnte ich schweigen? Mittels dieses Buches will ich meinen Schmerz und meine Wut herausschreien, doch will ich die Gesellschaft auch für die Gefahren des Fundamentalismus sensibilisieren.“

Abdelghani Merah, 36jähriger Franzose algerischer Herkunft, hat zusammen mit dem professionellen Autor Mohamed Sifaoui ein biographisches Buch mit dem Titel „Mein Bruder, dieser Terrorist“ veröffentlicht. Abdelghani ist der älteste Bruder des sogenannten „Scooter-Mörders“ Mohamed Merah (23) – ein waffennärrischer Salafist mit vorgeblichen Kontakten zu al-Qaida –, der vor einem Dreivierteljahr im südwestfranzösischen Toulouse binnen acht Tagen drei Fallschirmjäger nord-afrikanischer Herkunft, drei jüdische Schulkinder und einen ihrer Lehrer, einen Rabbiner, von seinem Motorroller aus erschoß; es gab zudem zwei Schwerverletzte.

Bei der nach langen 32 Stunden Belagerung erfolgten spektakulären Erstürmung der Wohnung Merahs durch die Spezialeinheit RAID kam der Mörder – durchsiebt von 22 Kugeln – ums Leben. Gegen Mohameds weiteren Bruder Abdelkadar (29) laufen Ermittlungen wegen Mittäterschaft, derer Abdelghani ihn ebenso verdächtigt wie an dessen Radikalisierung Anteil zu haben. Anfang Dezember wurden zudem zwei Tatverdächtige festgenommen, die in dringendem Verdacht stehen, Merah bei seinen Verbrechen geholfen zu haben.

Die Erschütterung über die Geschehnisse vom März 2012 hallt in Frankreich beträchtlich nach, und so sorgt das vor wenigen Wochen erschienene 239seitige Buch Abdelghani Merahs für Furore. Es prangt in den Regalen selbst der kleinsten Landbuchhandlungen.

Merah beklagte gegenüber dem Fernsehsender M6, daß seine Familie für die Radikalisierung seines Bruders verantwortlich sei: „Meine Mutter hat immer gesagt: ‘Wir Araber wurden geboren, um Juden zu hassen’. Ich habe das meine gesamte Kindheit hindurch gehört.“ Und im Vorwort schreibt er zu seinem toten Bruder Mohamed gewandt: „Ich werde schildern, wie meine Eltern dich in einer Atmosphäre des Rassismus und Hasses erzogen, bevor die Salafisten dich in religiösem Extremismus baden konnten.“ Auch die Imame greift Merah in einem Interview mit dem Magazin Le Point an, „sie seien gar keine, sondern liefen bloß durch die Viertel seiner Gegend und predigten Haß gegen alles, was nicht moslemisch sei.“

Während Abdelghani mit seiner Familie gebrochen hat, Rassismus wie Antisemitismus ablehnt und die aggressionslose Haltung des Vaters eines Opfers (eines Soldaten) tief bewundert, tobt seine 24jährige Schwester Souad in einer – mit versteckter Kamera aufgenommenen – TV-Dokumentation des Senders M6: „Ich hasse die Juden und alle, die Muslime massakrieren! Sie sei ‘stolz, stolz, stolz’ auf ihren getöteten Bruder.“

Mohameds Vater Mohammed Ben-Allal Merah hingegen will Frankreich verklagen, weil es den Sohn auch lebendig hätte fassen können. In der Tat gab es in Frankreich kriminalfachlich nachhaltige Kritik am Vorgehen der Eliteeinheit, die die für eine Nicht-Geiselnahme ungewöhnlich lange Belagerungsdauer ebenso wie das Unterlassen des Einsatzes von Tränengas aufs Korn nahm. Vier Beamte wurden verletzt.

Abdelghani Merah bezeichnet seinen Bruder als „Anders Breivik von Frankreich“ und ein „haßerfülltes Monster“. Der naheliegenden Frage, warum denn er und andere nicht rechtzeitig handeln konnten, kommt er zuvor: „Er redete so oft von Gewalt, daß ihn am Ende niemand mehr ernst nahm.“

Merah gebührt das Verdienst, ein Licht auf die Überforderungen und Unzulänglichkeiten der französischen Sozialdienste im Umgang mit islamistischen Familien geworfen zu haben. Das flüssig geschriebene Buch bietet daneben ebenso verzichtbare wie dennoch aufschlußreiche Randaspekte wie den folgenden: Dem achtjährigen Abdelghani, der einmal Geschenke wie seine christlichen Altersgenossen haben mochte, wurde ein Weihnachtsbaum verweigert. Was der Vater damit begründet habe, daß sich „hinter jedem Tannenbaum ein Jude verstecke, der den Propheten töten wolle.“

An einem Weihnachtsvorabend entwendete er seinem Vater, über den er im Buch harte Worte findet, dann 200 Francs, kaufte sich dafür Tage später eine elektrische Eisenbahn und erzählte seiner Mutter kurz darauf, er habe sie gestohlen. Seine Mutter sei stolz auf ihn gewesen und habe „Gut gemacht!“ gerufen.

In Frankreich findet Merahs Buch – das auf deutsch bislang nicht erschienen ist – vorwiegend Respekt, Sympathie und Lob. Es gibt indes auch Stimmen, Abdelghani Merah sei bitte schön kein Held, bloß weil er nicht Terrorist geworden sei.

Yvane Wiart, Psychologie-Forscherin an der Universität Paris-Descartes, gibt in einem Interview mit dem Magazin L’Express ferner zu bedenken, daß Abdelghani Merah bis ins Jahr 2007 ebenso kriminell und gewalttätig wie seine Brüder gelebt habe: Er sei an Raubzügen und Schlägereien beteiligt gewesen, habe viel getrunken, Anxiolytika genommen, seine Frau mißhandelt (die, so stellte sich heraus, jüdischstämmig war, was ein Familiendrama auslöste; unter anderem brachte Adelkadar seinem Bruder Abdelghani daraufhin sieben Messerstiche bei) – und acht Selbstmordversuche unternommen. Bei 130 Stundenkilometern habe er, ein Geschwindigkeitsfanatiker, dann die Gewalt über seinen Motorroller verloren, sei schwer verunfallt und leide seitdem unter einem verkrüppelten Arm.

Abdelghani Merah tat seine Erschütterung und Abscheu auf öffentliche Weise in einer aufrichtig klingenden, durchaus couragierten Weise kund. Es bleibt indessen unklar, wer sich wessen bediente: Merah des Autors Sifaoui oder der Autor und/oder der Verlag Merahs – zumal Abdelghanis völlig chaotische Schulkarriere und seine offenkundige Berufslosigkeit wenig dafür sprechen, daß er selbst dazu jemals die Buchform gewählt haben würde. Koautor Mohamed Sifaoui, Buchautor und Journalist, Moslem und „Antirassist“, stammt aus Algerien. 1999 entging er um Haaresbreite einem islamistischen Anschlag; lange stand er wegen einer filmischen Dokumentation über al-Qaida in Frankreich unter Personenschutz.

Abdelghani Merah, Mohamed Sifaoui: Mon frère, ce terroriste. Verlag Calmann-Lévy, Paris 212, gebunden, 239 Seiten, 17 Euro

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