© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/13 / 04. Januar 2013

„Macht mir den rechten Flügel stark“
Ein „Plan“ für den Sieg im Zweifrontenkrieg: Zum hundertsten Todestag von Alfred von Schlieffen
Dag Krienen

Am 4. Januar 1913 verstarb in Berlin ein preußischer Offizier, der in deutschen und internationalen Militärkreisen einen ausgezeichneten Ruf genoß. Die Rede ist von Generalfeldmarschall Alfred von Schlieffen, von Anfang 1891 bis Anfang 1906 Chef des Großen Generalstabes und verantwortlich für einen militärischen Operations-„Plan“, der im Kriegsfall eine rasche Niederwerfung Frankreichs sicherstellen sollte.

Der 1833 geborene Schlieffen entstammte einem alten pommerschen Adelsgeschlecht. Eine militärische Karriere war ihm nicht von Anfang an vorgezeichnet gewesen. Der Großteil seiner schulischen Ausbildung erfolgte auf einem Institut der Herrnhuter Brüdergemeinde in Niederschlesien. 1853 meldete er sich zunächst nur als Einjährig-Freiwilliger zur Armee, entschloß sich allerdings noch im selben Jahr, Berufsoffizier zu werden.

Als solcher wurde er hauptsächlich in Stabsfunktionen verwendet, in denen er auch an den Kriegen von 1866 und 1870/71 teilnahm. Danach drohte allerdings ein Karriereknick. Helmuth von Moltke, der damalige berühmte Generalstabschef, interpretierte Schlieffens zurückhaltende Art (Motto: „Viel leisten, wenig hervortreten – mehr sein als scheinen“) als Mangel an geistiger Beweglichkeit und sprach sich zunächst gegen dessen weitere Verwendung als Generalstabsoffizier aus.

Schlieffen erhielt zunächst „nur“ ein Truppenkommando. Moltke revidierte allerdings 1875 bei einer längeren persönlichen Begegnung sein Urteil vollständig und holte ihn 1884 in den Großen Generalstab. Dort machte Schlieffen rasch Karriere: Zunächst Chef der Frankreichabteilung, wurde er 1889 stellvertretender und dann 1891 Chef des Generalstabes.

15 Jahre lang, bis Anfang 1906, sollte Schlieffen nun für die strategische Kriegsplanung des Deutschen Reichs verantwortlich zeichnen. Seine besondere Aufmerksamkeit galt dem worst case, dem militärisch schlimmsten Fall: jenem Zweifrontenkrieg, der im Falle eines Zusammengehens Frankreichs und Rußlands, insbesondere nach ihrem Bündnis von 1892/94, drohte. Wenn überhaupt, war in diesem Fall ein entscheidender militärischer Erfolg, der einen der beiden Gegner zu einem raschen Friedensschluß zwingen würde, nur gegen Frankreich möglich, während sich Rußland selbst nach schweren Niederlagen immer noch in die Tiefe seines Territoriums zurückziehen konnte.

Schlieffen hatte zudem erkannt, daß unter den nach 1870 stark gewandelten Umständen ohne eine rasche Kriegsentscheidung ein großer europäischer Krieg auf eine ruinöse „Ermattungsstrategie“ hinauslaufen würde, bei der „der Unterhalt von Millionen [Soldaten] den Aufwand von Milliarden“ erforderte und den das Deutsche Reich kaum würde gewinnen können. Die Befürchtung, daß das Deutsche Reich nicht unbedingt siegreich aus einem Konflikt mit Frankreich und Rußland hervorgehen könnte, veranlaßte Schlieffen sogar zur Ermunterung Kaiser Wilhelms II., während der Marokkokrise 1905 den immer wahrscheinlicher werdenden Krieg mit Frankreich zu riskieren, da Rußlands Mobilisierung wegen der Niederlage im Japanisch-Russischen Krieg und der innenpolitischen Instabilität wegen der Revolutionswirren eher unwahrscheinlich erschien.

Frankreich hatte nach 1871 seine Grenze zu Deutschland mit einer Reihe von Sperrfestungen versehen, die einen schnellen frontalen Durchbruch nicht erlaubten. Um dennoch die militärische Niederwerfung des Landes innerhalb kurzer Zeit erreichen zu können, entwickelte Schlieffen eine gewagte operative Grundidee: An der direkten Grenze wollte er den Franzosen nur mit geringen eigenen Kräften entgegentreten und sie statt dessen mit der Masse der eigenen Truppen durch Belgien und Luxemburg hindurch weiträumig rechts überflügeln, um anschließend das gesamte französische Heer in einer für dieses ungünstigen Position zur Schlacht zu stellen und zu „vernichten“, das heißt komplett auszuschalten. Anschließend hätte Deutschland einen großen Teil seiner zuvor im Westen gebundenen Truppen an andere Fronten werfen können.

Diese Grundidee wurde auch von Schlieffens Amtsnachfolger, dem „jüngeren“ Moltke (gleichnamiger Neffe des Generalstabschefs aus der Zeit der Einigungskriege), weiterverfolgt und im Sommer 1914 zur Grundlage der deutschen Feldzugsplanung gegen Frankreich gemacht, die dann im September 1914 an der Marne scheitern sollte. Damit war auch die Hoffnung auf eine schnelle Kriegsentscheidung gestorben und es folgten lange Jahre zermürbender Materialschlachten an der Westfront.

Es verwundert nicht, daß in der Folgezeit der sogenannte „Schlieffenplan“ in allen historischen Erzählungen zu den Ursachen und über den Verlauf des Ersten Weltkrieges eine herausragende Rolle spielt. 1999 wagte es allerdings ein amerikanischer Historiker und erfahrener Berufssoldat, Terence Zuber, nach eingehendem Aktenstudium zu behaupten, daß es so etwas wie den „Schlieffenplan“ nie gegeben habe, sondern es sich um einen bloßen Mythos handle. Dieser habe nach der Niederlage an der Marne deutschen Militärs zunächst dazu gedient, die Schuld auf den jüngeren Moltke zu schieben, weil er einen angeblich unfehlbaren „Meisterplan“ verwässert habe. Nach 1945 habe der „Schlieffenplan“ hingegen als Symbol für die Hybris eines deutschen Militarismus, der das militärisch Unmögliche mit Hilfe eines scheinbar genialen Operationsplanes realisieren zu können meinte, und so als „Hauptbeweis für die deutsche Aggression im Ersten Weltkrieg“ gedient.

Zuber mußte bald feststellen, daß er den massiven Widerstand von Historikern und politischen Interessen herausgefordert hatte, die in diesen Hauptbeweis „viel investiert hatten“. Da er nach Untersuchungen zahlreicher deutscher Kriegsspiele und Übungslagen tatsächlich zu dem einseitigen Ergebnis kam, daß die realen deutschen Pläne vor 1914 rein defensiver Natur waren, fiel es deutschen und ausländischen Militärhistoriker leicht, ihn zu einem Außenseiter zu deklarieren. Immerhin konzedierten die Redlicheren unter seinen Gegnern, daß die Vorstellung von einem „Meisterplan“ Schlieffens, der das Denken des deutschen Generalstabes vor 1914 völlig beherrscht haben soll, stark relativiert werden muß.

Statt von einem umfassenden „Plan“ geht man heute von einer operativen Grundidee Schlieffens aus, an der er während fast seiner ganzen Amtszeit feilte und sie immer wieder neu den Gegebenheiten anpaßte. Ähnliches gilt auch für den jüngeren Moltke. „Kriegsspiele“, während derer eine große Umfassungsbewegung durch Belgien auf den Karten geübt wurde, gab es durchaus. Doch ist mittlerweile klar, daß Schlieffen und Moltke weit flexibler planten als bislang angenommen und nicht nur auf diese eine Grundidee fixiert waren. Daß Schlieffen das einzige Heil in dem – übrigens mehrfach modifizierten – Aufmarschplan gesehen hat und deshalb noch auf dem Totenbett geraunt haben soll: „Macht mir den rechten Flügel stark!“, dürfte ein moderner Mythos sein.

Zudem zeigte nicht nur der jüngere Moltke immer wieder Anflüge von Zweifel am Gelingen einer Riesenumfassung. Auch Schlieffens Abschiedsdenkschrift von 1905/06 ist bei näherem Hinsehen keineswegs von absoluter Siegesgewißheit geprägt, sondern betonte vor allem, daß die einzige Chance zum Sieg darin bestünde, daß man den rechten Flügel mit allen Mitteln so stark wie irgend möglich macht. In den meisten der von Schlieffen und dann von Moltke zu verantwortenden Mobilmachungsplänen vor 1913 war zudem neben einem Aufmarsch mit Schwerpunkt gegen Frankreich auch die Variante eines „Großen Ostaufmarsches“ mit einer gleichmäßigen Verteilung der deutschen Armeen zwischen Ost und West vorgesehen. Von einer militärischen Hybris, über einen todsicheren Plan zum Sieg im Zweifrontenkrieg zu verfügen, kann keine Rede sein. Schlieffen und der jüngere Moltke waren sich vielmehr bewußt, daß die Grundidee und ihre operative Planungen „ein sehr hohes Risiko bargen“ und „beileibe kein Siegesrezept, sondern eher eine Notlösung“ darstellten, wie einer der Kritiker Zubers, Gerhard P. Groß vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA), einräumte.

Dennoch ließ Moltke ab der Periode 1913/14 den „Großen Ostaufmarsch“ nicht mehr in die konkrete Mobilmachungsplanung aufnehmen, sondern nur noch „studienweise“ bearbeiten. Er erhob sogar explizit die Forderung, daß für den Fall, daß wider alles Erwarten „England oder Rußland den Krieg dennoch allein“ erklärt, „die deutsche Diplomatie Frankreich zur endgültigen Stellungnahme zwingen“ müsse. Im Sommer 1914 war damit der Rückgriff auf Schlieffens operative Idee samt der Notwendigkeit, die Neutralität Belgiens zu verletzen und damit England den gewünschten Vorwand zum Kriegseintritt boten, tatsächlich zu einer „alternativlosen“ Militärstrategie geworden, wie es in der Julikrise 1914 Kaiser und Reichsleitung erleben mußten, als sie zeitweise einen Aufmarsch vornehmlich gegen Rußland forderten.

Auch hier dürfte nicht militärische Hybris, sondern die drastische Verschlechterung der gesamtstrategischen Lage der Mittelmächte nach den Balkankriegen 1912/13 ursächlich gewesen sein. Alles auf eine Karte zu setzen, um im Westen im Rückgriff auf Schlieffens Grundidee einen raschen Sieg zu erzwingen, schien offensichtlich dem Generalstab nunmehr die einzige verbliebene Chance zu bieten, im absehbaren Zwei-frontenkrieg zu siegen und einen kaum zu gewinnenden, langwierigen Abnutzungskrieg gegen eine Übermacht zu vermeiden.

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