© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/13 / 04. Januar 2013

„… unde starp so vil fulckes an hunger“
Die Krisenherde des Spätmittelalters aus Sicht der Umweltgeschichte
Manfred Franke

Die Faszination, die das Mittelalter seit der „romantischen Bewegung“ (Rudolf Haym) ausübt und von der noch jedes nostalgische Ritter-Spektakel der Gegenwart profitiert, speist sich aus den Wünschen des „entfremdeten“ modernen Menschen nach Ganzheit, Geborgenheit, Überschaubarkeit. Für den Historiker bleibt jedoch unverständlich, daß solche Bedürfnisse Befriedigung ausgerechnet von einer Reise in die mittelalterliche Vergangenheit erwarten. Denn die etwa 1.000 Jahre zwischen dem Zusammenbruch des römischen Imperiums, den Völkerwanderungen und dem Anbruch der Epoche der Entdeckungen, mit der die Neuzeit begann, hielten für die Menschen Europas ein Maximum an existentieller Unsicherheit bereit. Das gilt im herausragenden Sinn für die abschließenden Jahrhunderte des Spätmittelalters zwischen 1300 und 1500.

Im Werk des tschechischen Historikers František Graus steht vor allem das von Schwarzer Pest, Hungerepidemien, Geißlerzügen und Judenpogromen geprägte 14. Jahrhundert überhaupt synonym für „Krisenzeit“. Beträchtliche Teile der Bevölkerung waren in Bewegung, die europäischen Gesellschaften steckten voller Gewalt und Willkür in Stadt und Land. Es sei ein Leben gewesen, weit entfernt von dem Bild behäbiger Ruhe und harmonischer Unbewegtheit, das man seit der Romantik als charakteristisch „mittelalterlich“ empfand.

Deutsche Sozial- und Agrarhistoriker haben seit Robert Hoenigers Göttinger Dissertation über den Zusammenhang von Pest, Geißlerzügen und Judenverfolgungen (1881) viel zur Korrektur des idealisierten Mittelalterbildes beigetragen. Einen Meilenstein auf dem Weg dieser kritischen Revisionen setzte der aus dem pommerschen Bütow stammende, bis 1945 an den Wirtschaftsinstituten in Kiel und Königsberg tätige Wilhelm Abel. Seine Untersuchung über „Agrarkrisen und Agrarkonjunktur“ im späten Mittelalter dokumentierte bei ihrer Veröffentlichung 1935, daß die deutsche Geschichtswissenschaft selbst während des Dritten Reiches ihr anerkannt hohes Niveau behaupten konnte.

Bis heute ist die Arbeit in ihrem Kerngehalt unerschüttert. In Abels Agrarkrisenmodell spielt – methodisch damals sehr modern – der „demographische Faktor“ die Hauptrolle. Die Pestseuchen, primär der von 1347 bis 1351 wütende Schwarze Tod, rafften in vielen Regionen des nordwestlichen Europa fast die Hälfte der Bevölkerung hinweg. Neben dem fast vollständigen Abbruch der deutschen Ostsiedlung folgten Abwanderungen, die Reduktion der Anbauflächen, während sich die „wüsten“, an die Wildnis zurückfallenden Gegenden ausdehnten. Die katastrophisch hereinbrechenden Ereignisse lösten eine „Dynamik der Schrumpfung“ (Friedrich Lütge) aus, die wiederum tiefgreifende wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandlungen bewirkte und Übergänge in die Neuzeit ebnete.

Für die marxistische Geschichtswissenschaft war Abels Rückgriff auf natürliche Vorgänge wie seuchenbedingt erhöhte Sterblichkeit ein Affront. Denn nach materialistischer Auffassung durften Agrardepressionen allein aus der Krise feudaler Produktionsweise hergeleitet werden. Obwohl DDR-Historiker wie Jürgen Kuczynski in den 1960ern von dieser Warte aus tatsächlich einige Schwachstellen Abels aufdeckten, ging die innovative Erweiterung seiner Krisen-Historiographie nicht von Marxisten, sondern von westeuropäischen und skandinavischen Pionieren der „Umweltgeschichte“ aus.

Der Gießener Mediävist Werner Rösener würdigt in seinem Rückblick auf die internationale Forschungsentwicklung zur „Krise des Spätmittelalters“ (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 2/2012) diese, Abels demographisches „Paradigma“ ergänzende Klima- und Umweltgeschichte, die in interdisziplinären Anstrengungen von Meteorologen, Botanikern, Geographen und Historikern „erstaunlich vorangekommen“ sei. Sie erkannten die Zäsur zwischen der um 1300 endenden Warmperiode des Hochmittelalters und der sie ablösenden Kleinen Eiszeit, die vom 15. bis 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt hatte. Die abrupte Klimaverschlechterung nach 1300 verursachte kältere Winter, feuchte Sommer mit permanenten Niederschlägen, radikale Ausfälle von Getreideernten, von 1315 bis 1321 eine durch Viehseuchen verschärfte, verheerende Hungersnot und einen kontinuierlichen Bevölkerungsrückgang. Die Notstandsgebiete der schlechten Ernte erstreckten sich von Schottland und Norwegen bis nach Mitteleuropa, wo die hessische Landeschronik wortreich klagte, daß „vil fulckes an hunger unde an der pestilentz starp, das man großer graber und kulen machte, das man die toden mit karnen darin furte“.

Der große, für Abels Modell so zentrale Pesteinbruch von 1347 sowie die nachfolgenden Pestzüge bis 1400 konnten ihre volle Wucht also nur deshalb entfalten, weil sie auf eine durch die Krisen der Kleinen Eiszeit dezimierte, geschwächte, schlechternährte Bevölkerung trafen, die der „pestilentz“ wenig Abwehrkräfte entgegensetzte. Indem Abels Kollegen ihr Augenmerk auf den von ihm ignorierten Klimawandel richteten, die Pestepidemien mit ihren ökonomischen Verwerfungen als Verbreiterung und Verstärkung älterer Krisenmomente sichtbar geworden. So erweise sich die Krisenserie des 14. Jahrhunderts als historischer Prozeß, der sich als komplizierte Interaktion von Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft vollzog.

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