© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/13 / 04. Januar 2013

Der Flaneur
Licht, Farbe, Finsternis
Josef Gottfried

Der Aufpasser nickt mir zu. In seinem Anzug, den ihm sein Arbeitgeber als Uniform zur Verfügung stellt, soll er achtgeben, daß ich keines der Bilder berühre. „Bitte nicht so nah“, ermahnt er mich, als ich vom Pinselstrich des Malers eine irrationale Ahnung seines längst vergangenen Lebendigseins erhaschen möchte. Ich werde kurz wütend, erinnere mich aber, daß er nur seiner Aufgabe gerecht wird, und auch, daß ich ohnehin nichts erhascht hätte.

Es ist nicht fair, einfach nur zurückzugehen, ohne den Aufpasser dabei anzuschauen, ja, sein Eingreifen noch nicht einmal mit einem Nicken zu quittieren. Welchen Wert haben diese Bilder, wenn sie allen zugänglich sind? Sicher nur den, den die Versicherung ihnen zugesteht; welchen Schaden würde es schon anrichten, wenn nur eines von ihnen beschädigt würde?

Aber – oho! – welcher Nutzen ergäbe sich daraus? Ich gehe wieder hin, die Augen auf das Bild gerichtet, doch den Blick zu dem Mann, der mir gegenüber im Recht ist. „Bitte nicht so nah“, wiederholt er sich, hörbar gequält von der Autorität, die er so unerwartet ausüben muß. Daß ich jetzt erneut nicht zu ihm schaue, ist nun weniger das Resultat meiner Arroganz als meines schlechten Gewissens. Trotzdem verspüre ich den Impuls, uns weiter zu quälen. Ich könnte aktenkundig werden, in der Zeitung erscheinen und das Objekt einer Festnahme gemäß Paragraph 127 Strafprozeßordnung werden, quasi: existieren! Selbst ihm würde es nutzen, was hätte er nicht alles zu erzählen!

Statt dessen schlurfe ich zur Bank in der Mitte des Raumes, setze mich und blättere in dem Katalog, der dort angebunden liegt. Ich lese einen Text über das Bild und behalte nichts. Nicht mal den Namen des Künstlers. Seine Kunstfertigkeit vor Hunderten von Jahren könnte die Leinwand meiner Profilneurose sein. Ich müßte es nur wollen.

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