© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/13 / 11. Januar 2013

Hamburg meine Perle
Redakteure und ihre Heimat: Marcus Schmidts Hansestadt / JF Serie, Teil 2
Marcus Schmidt

Heimat: Wogende Felder, liebliche Täler, tiefe Wälder – all das hat Hamburg nicht zu bieten. Und doch ist mir die Hansestadt Heimat, auch wenn sie dem Klischee des Begriffes auf den ersten Blick nicht entspricht. Wer in der Großstadt aufwächst, verbindet mit dem Ort seiner Herkunft gezwungenermaßen meist weniger eine eindrucksvolle Natur als vielmehr eine enge und oft auch laute „Stadtlandschaft“. Statt unüberwindlichen wilden Gebirgsbächen sieht man sich mehrspurigen Hauptverkehrsstraßen gegenüber, statt geheimnisvolle Wälder werden in der Kindheit die „fremden“ Stadtteile auf der anderen Seite der Autobahn erkundet.

Das Fehlen der großen Sensationen schärft indes den Blick für das wesentliche des Heimatbegriffes, also auf das eng gesponnene Netz aus Erinnerungen und Geschichten, die an ganz bestimmte Menschen, Straßen und Häuser gebundene sind. Dieses Netz ist im eigenen Viertel besonders dicht geknüpft und wird mit zunehmender Entfernung vom Elternhaus dünner und reißt mitunter schon an der nächsten Autobahn, die den Stadtraum und ganze Wohngebiete zerschneidet, unvermittelt ab.

Doch wie beschreibt man dieses sehr intime und persönliche Wesen der Heimat? Wenn man in der Fremde gefragt wird, fallen einem meist die „Leuchttürme“ ein. Für Hamburg heißt das: die Elbe, die Alster, der Michel, vielleicht der Fischmarkt und – in späteren Jahren – natürlich die Reeperbahn. Hätte man mir als Kind die Frage nach der Heimat gestellt, hätte ich ohne zu zögern an erster Stelle den Hafen genannt. Der ölige Duft des vielgerühmten „Tors zur Welt“ war seit meiner frühen Kindheit mein Tor zu den Träumen von Ferne und Abenteuern. Wenn stolze Seegelschiffe oder mächtige Kriegsschiffe an den Landungsbrücken festmachten, mußte sich mein Vater mit mir geduldig in die langen Warteschlangen einreihen, um die Schiffe zu besichtigen.

Von der engeren, der inneren Heimat dagegen, läßt sich sehr viel schwieriger erzählen – nicht weil sie weniger Bedeutung hat, aber sie ist für Außenstehende nicht so interessant, weil meist unspektakulär. Da ist das Wissen darum, wie sich die vertrauten Menschen, Straßenzüge und Häuser im Laufe der Jahre allmählich verändert haben, das „Es war einmal“. Und da ist etwa der kleine Supermarkt, in dem schon die Großeltern vor Jahrzehnten eingekauft haben und in dem ich mir später als Schüler mein erstes Geld verdiente und in dem ich, obwohl mehrfach die Betreiber gewechselt haben und ich nur noch wenige Male im Jahr dort einkaufe, noch immer mit Namen gegrüßt werde. Kleine, für sich gesehen – und erst recht für Außenstehende – unbedeutende Ereignisse und Erinnerungen, die aber zusammengenommen die innere Heimat ausmachen. Ein Betriebssystem, das nur auf dem eignen Rechner läuft, und eben nur dort.

Doch um zum Anfang zurückzukehren: Natürlich gibt es auch in Hamburg Natur. Allen voran die Elbe, der mächtige Strom, der Freiheit und Ferne verheißt und der stolzen Stadt ihren Reichtum gebracht hat. An den Stränden brennen im Frühjahr die Osterfeuer, im Sommer wird gefeiert, und im Winter werden die sich meterhoch auftürmenden Eisschollen bestaunt. Auch heute noch vergeht kaum ein Besuch in der Heimatstadt, der mich nicht zum Fluß führt, um endlich mal wieder frei durchatmen zu können.

Aber auch das nähere Umfeld der elterlichen Wohnung, an der Grenze zu Schleswig-Holstein gelegen, wo sich die enge Besiedelung der Stadt auflöst, hatte Wildnis zu bieten. Etwa den inmitten von Baumschulen gelegenen geheimnisvollen Krupunder See, von dem die Legende sagt, er verdanke seinen Namen einem Gastwirt, der vor Jahrhunderten Reisende in dem Gewässer ertränkte („Küp ünner“). Für uns war dieser See ein idealer Abenteuerspielplatz.

Doch wo sind die Grenzen der Heimat? Schon in der Kindheit erweitert sich das nähere räumliche Umfeld stetig, Straße um Straße, erst durch den Gang zum Kindergarten, später zur Schule. Durch das Studium wurden mir dann ganz neue Stadtteile erschlossen, über die sich im Laufe der Zeit ebenfalls ein fein gesponnenes Netz von Erinnerungen legte.

Aber man muß die Heimat verlassen, um zu erkennen, wo der Unterschied liegt zwischen einem Ort, der einem „nur“ vertraut ist und der Heimat. Mir jedenfalls ging es so. Bei aller Liebe zur „schönsten Stadt der Welt“, die einem als Hamburger schon mit in die Wiege gelegt wird: Erst als ich die Stadt Richtung Sachsen und später Richtung Berlin verließ, wurde mir bewußt, was mir meine Stadt mit all ihren kostbaren Erinnerungen und geliebten Menschen, was mir meine Heimat bedeutet. Gewiß keine exklusive Erfahrung, aber eine, die jeder selber machen muß. Oder mit den Worten des Hamburger Dichters Gorch Fock: „Mit der Heimat im Herzen die Welt umfassen.“

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