© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/13 / 11. Januar 2013

Multikulturalismus
Die große Reduktion
Norbert Borrmann

Bald wird man in der ganzen Welt überall dieselben Menschentypen, dieselben Städtebilder, dieselben langweiligen Bars haben“, urteilte vor über hundert Jahren der Dichter Hermann Löns, und der Globetrotter Stefan Zweig schrieb 1925: „Monotonisierung der Welt. Stärkster geistiger Eindruck von jeder Reise in den letzten Jahren, trotz aller einzelnen Beglückung: ein leises Grauen vor der Monotonisierung der Welt. Alles wird gleichförmiger in den äußeren Lebensformen, alles nivelliert sich auf ein einheitliches kulturelles Schema. Die individuellen Gebräuche der Völker schleifen sich ab, die Trachten werden uniform, die Sitten international. Immer mehr scheinen die Länder gleichsam ineinandergeschoben, die Menschen nach einem Schema tätig und lebendig, immer mehr die Städte einander äußerlich ähnlich.“

In der Tat. Wer seine Sinne öffnet, wird sich kaum diesem Prozeß der Vereinheitlichung verschließen können: Die Architekturen ähneln einander auf der ganzen Welt. Popmusik dröhnt rund um den Erdball. Amerikanische Fernsehserien oder Hollywoodfilme erreichen noch die letzte Urwaldhütte. Die Sprachenvielfalt nimmt rapide ab. Von den zu Beginn des 21. Jahrhunderts knapp 6.000 gesprochenen Sprachen werden am Ende des Jahrhunderts voraussichtlich nur noch 2.000 übrigbleiben. Die Sprachen, die überleben, gleichen sich einander immer mehr an beziehungsweise geraten immer stärker in den Sog von Anglizismen und Amerikanismen. Nationalwährungen schwinden zugunsten von Einheitswährungen. Die Studienabschlüsse wurden mit der Einführung des Bachelor- und Mastersystems europaweit gleichgeschaltet. Parteien und Politiker, mögen sie traditionell als „rot“, „grün“, „schwarz“ oder „gelb“ eingestuft werden, sind zumeist blaßgrau. Unverwechselbare Inhalte, persönliches Profil, klare Sprache sind Mangelware.

Seit dem Beginn der Industrialisierung um 1800 läßt sich beobachten, wie Kulturen schwinden, regionale Eigenheiten verlorengehen und die einst so abwechslungsreichen, regional geprägten Kulturlandschaften einer uniformen Monokultur weichen. Orte werden austauschbar und zu Nicht-Orten. Wir leben in einer „Weltgesellschaft“, die überall ist und in der gerade deshalb nichts und niemand mehr seinen Ort hat.

Trotz dieser Entwicklung tauchte 1978 in einer Rede des damaligen hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner (SPD) erstmalig in Deutschland das Wort „Multikulturalität“ auf. Seitdem hat das Wort – zumeist in der verniedlichten Form „Multikulti“ – Karriere gemacht. Ausgelöst wurde die Multikulti-Welle durch die wachsende Zahl ausländischer Arbeitskräfte und anhaltende Migrationsbewegungen. Das Ideal der Multikulti-Strategen bestand darin, daß alle Einwanderer ihre heimische Kultur mitbringen und auf deutschem Boden neben den alteingesessenen Kulturen einpflanzen sollten. In der multikulturellen Gesellschaft sollten alle Kulturen in gegenseitiger Toleranz wie Inseln nebeneinander bestehen und zusammen einen bunten, „malerischen“ Teppich bilden.

Was ist aus diesem holden Traum geworden? Ist seitdem unser Leben wirklich bunter, multikultureller geworden? Die Antwort kann nur ein klares Nein sein. Noch nie umgab uns soviel Monokultur, soviel Uniformität. Egal ob wir einen Blick auf unsere Städte oder unsere Landschaften werfen: Überall paart sich Artensterben mit Kulturensterben. Meinungsvielfalt reduziert sich auf politische Korrektheit. Und der Mensch selbst? Noch nie war er so vermaßt, noch nie glichen sich die Physiognomien so sehr, noch nie war die menschliche Kleidung derart gleichförmig. Ob Sonntag oder Alltag, ob Männchen oder Weibchen, ob Inländer oder Ausländer, ob jung oder alt, ob Stadt oder Land: Überall begegnet einem derselbe unkleidsame Freizeitstil – gleichsam eine Uniform ohne Form.

„Multikulti“ konnte diese Entwicklung allein deshalb nicht aufhalten, da es überhaupt keinen Gegensatz dazu darstellt, sondern ganz im Gegenteil ein vollkommener Ausdruck dieser Entwicklung ist; denn die vermeintliche Multikulturalität wirkt im Verbund mit der sie voraussetzenden Mobilität als ein Beschleuniger der Globalisierung und damit eben auch Vereinheitlichung der Welt. Sie ebnet regionale und nationale Eigenheiten ein, entzieht Menschen ihrem heimatlichen Ursprung und fördert dadurch eine globale, rein kommerzielle Monokultur. Was übrigbleibt sind einige kulturelle Versatzstücke – meist vom Speiseplan. Aber überall das gleiche Gemisch von „exotischen“ Speisen zeigt uns erst, wie ähnlich die Welt doch geworden ist. Zumal wir zwar nahezu überall Döner Kebab, Frühlingsrolle oder Pizza verzehren können, aber dafür immer seltener regionale Küche.

„Multikulti“ war lediglich die Illusion einer Linken, die unbedingt „antifaschistisch“ sein wollte, dabei aber doch nur den Wirtschaftsliberalismus bediente. Die Migrantenströme, die nach Europa oder Amerika drängen, suchen Wohlstand und nicht den multikulturellen Karneval beim Straßenfest, um damit müde gewordene Wohlstandsbürger zu unterhalten. Arbeitgeber hingegen verlangen nach billigen Arbeitskräften, und die Wirtschaft wünscht sich generell den stromlinienförmigen Konsumenten. Kulturelle Unterschiede schaden da nur dem Absatz.

In Wahrheit steht „Multikulti“ also gerade nicht für multikulturell, dafür aber für etwas, das klar auszusprechen gegen alle „guten Sitten“ einer politisch korrekten Gesellschaft verstößt: Multikulti heißt eigentlich multirassisch. Kurt Willrich hat in seinem Buch „Von der Unfreiheit eines multikulturellen Menschen“ das vermeintliche „Multikulti“ präzisiert und in folgende Reihenfolge gebracht: „Die sogenannte ‘multikulturelle Gesellschaft’ ist in erster Linie multi-rassisch, dann multi-ethnisch, dann multireligiös, dann erst multikulturell.“ Wie oft findet man in Tageszeitungen oder Illustrierten Berichte über irgendwelche Tagungen, Treffen et cetera, die „multikulti“ gewesen sein sollen. Auf den beigegebenen Gruppenfotos findet man dann Schwarze, Weiße, Gelbe und Braune freundlichst vereint. Tatsächlich sind auf diesen Bildern im Regelfall aber überhaupt keine kulturellen Unterschiede sichtbar; denn gekleidet ist diese vermeintlich so multikulturelle Truppe zumeist durchgehend westlich-amerikanisch.

Dabei ist doch gerade die Mode beziehungsweise Bekleidung ein äußerst sensibler Anzeiger für kulturelle Unterschiede – oder aber bei durchgehend gleicher Bekleidung für deren Nicht­existenz. Wer zudem beobachtet, wie positiv es von den meinungsmachenden Kräften gewertet wird, wenn sich Menschen unterschiedlicher Rasse verbinden und beispielsweise Models, Popstars, Schauspieler oder Sportler, die sich multirassisch liieren, quasi mit Sonderberichterstattungen kostenlos „promotet“ werden, der weiß, daß es unter der Oberfläche, gleichsam metaphysisch, um etwas ganz anderes geht: um die Erschaffung des globalen Einheitsmenschen, der ohne Rasse, ohne Geschlecht, ohne Kultur, ohne Wurzeln ist – ganz Oberfläche, ganz Konsument, ganz von Außenreizen abhängig.

Dabei läuft die Erschaffung des globalen Einheitsmenschen ausgerechnet unter dem – aus den USA übernommenen – Begriff „Diversity“ ab. So warb beispielsweise die Berliner „Selbstverwaltung für Integration und Migration“ 2011 mit dem Slogan „Unterschiedlichkeit und Vielfalt und zugleich Diversity“. Beigegeben ist der Diversity-Propaganda zumeist eine Collage menschlicher Rassen, die aber als solche keinesfalls benannt werden dürfen, sondern mit Ausdrücken wie „Vielfalt“, „Buntheit“ oder eben „Diversity“ belegt werden muß.

Doch im Kern ist es mit aller Diversity, Buntheit und Vielfalt nicht weit her. Treffend bemerkt Martin Lichtmesz („Die Verteidigung des Eigenen“) über diesen neuen Ausläufer von „Multikulti“: „Das Bild, das ihre Apologeten von der ‘Vielfalt’ propagieren, reicht banalerweise kaum über eine Art Smartiesrollen-Ästhetik hinaus, in der eine möglichst ‘bunte’ Ansammlung verschiedener Hautfarben auf einem Fleck schon als ausreichend gilt, um ‘Pluralismus’ zu signalisieren. Ein ‘Smarty’ ist eine Schokoladenlinse, die sich von der anderen seiner Sorte nur durch die Farbe des Zuckergusses unterscheidet. Von wirklichen Unterschieden zwischen Völkern, Geschlechtern, ja bloßen Individuen, etwa genetischer, biologischer, kultureller, religiöser, politischer, mentaler Art, will man eigentlich nichts wissen.“

Es ließe sich hier natürlich einwenden, das Aufkommen einer globalen Monokultur, die Zusammenmischung verschiedener Populationen, sei nun einmal das unvermeidliche Resultat von Technik und Industrialisierung. Eine solche Auffassung ist genauso richtig wie etwa diejenige, daß eine erhöhte Wasser- und Luftverschmutzung das unvermeidliche Ergebnis der Industrialisierung ist. Selbstverständlich sind derartige Umweltschäden das Resultat der Industrialisierung – nur, wenn der Mensch physisch überleben will, muß er die ökologischen Probleme irgendwie in den Griff bekommen. Wenn er gleichzeitig psychisch überleben will, dann muß er das Kulturensterben ebenso wie die damit verbundene wuchernde Ausbreitung einer heimatlosen Monokultur zu verhindern suchen. Die eigene Kultur und damit Heimat wächst heute eben nicht mehr automatisch, sondern bedarf der Hege und Pflege. Trotzdem ist Heimat nicht Nostalgie – ebensowenig wie der Regenwald –, sondern es gibt keine vitale Zukunft ohne sie. Das Verschwinden der Vielgestaltigkeit in unserer Welt – und damit von Heimat – ist eine der großen Hauptbedrohungen der Gegenwart. Die Nivellierung der Menschen, die Reduktion aller Kulturen auf eine „Weltzivilisation“, schleift alle Eigenheiten ab und baut dafür auf dem Allergewöhnlichsten auf. Wirtschaftsliberalismus und linker Egalitarismus beziehungsweise „Multikulti“ bedrohen die Vielfalt und Schönheit der Welt mittlerweile mindestens ebenso stark wie Technik und Industrialisierung.

Während aber das Problem der Umweltverschmutzung zumindest in Teilen bewußt ist, trifft das auf den Verlust von Heimat und Kulturenvielfalt weit weniger zu. Gerade die naiven Vorstellungen von „Multikulti“ haben dabei kontraproduktiv gewirkt, da sie bei zahlreichen Zeitgenossen die Illusion erweckt haben, unsere Welt sei „bunter“ geworden. Zwar mag das dem einzelnen bisweilen so erscheinen, wenn man unter „Buntheit“ die Möglichkeit versteht, jederzeit und überall Fragmente zahlreicher „Kulturen“ zu konsumieren: Pizza, Feng Shui, Country-Musik, Schwedenhäuser in Oberbayern und so weiter. Doch was hier stattfindet, ist lediglich ein Ausverkauf kultureller Versatzstücke – ein Disneyland für Erwachsene.

Es ist also nicht die industrielle Revolution allein, die uns in eine globale Monokultur führt, sondern die Trias aus industrieller Revolution, Wirtschaftsliberalismus und dem linken Egalitarismus im Verbund mit der Verleugnung des Eigenen. Diese Verleugnung und Verkennung ist dabei besonders in Deutschland ausgeprägt, so daß sich das Paradoxon formulieren läßt: Deutsch sein heißt heute vor allem, nicht deutsch sein zu wollen. Der Haß auf das Eigene dürfte dabei den Prozeß des Kulturensterbens weitertreiben. Hinzu kommt eine allgemein verbreitete Naivität, die sich nicht zuletzt in dem einfältigen Geschwätz von „Multikulti“, „Buntheit“ oder „Diversity“ ausdrückt. Der erste Schritt zur Gegenwehr und Besserung kann daher nur über eine allgemeine Bewußtwerdung erfolgen – wozu es nichts weiter bedarf, als die Augen zu öffnen.

 

Dr. Norbert Borrmann, Jahrgang 1953, studierte Architektur, Kunstgeschichte und Geschichte in Berlin und arbeitet in der Denkmalpflege.

Foto: Nullachtfünfzehn: „Monotonisierung der Welt. (...) Rettung: so bleibt nur eines für uns, da wir den Kampf für vergeblich halten: Flucht, Flucht in uns selbst. Man kann nicht das Individuelle in der Welt retten, man kann nur das Individuum verteidigen in sich selbst. Des geistigen Menschen höchste Leistung ist immer Freiheit, Freiheit von den Menschen, von den Meinungen, von den Dingen, Freiheit zu sich selbst. Und das ist unsere Aufgabe: immer freier werden, je mehr sich die anderen freiwillig binden!“ (Stefan Zweig)

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