© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/13 / 11. Januar 2013

Nur Notate eines Apparatschiks
Die Nachkriegsberichte des Chefs der sowjetischen Militäradministration Sergej Tjulpanow
Detlef Kühn

Von den Einzelheiten der Politik der Sieger des Zweiten Weltkriegs im besetzten Deutschland hat der Durchschnittsdeutsche nach 1945 nur wenig mitbekommen. Die Möglichkeiten, das politische Geschehen zu verfolgen, waren beschränkt. Zeitungen erschienen zwar bald wieder. Ihr Inhalt war vor allem interessant, wenn er die offiziellen Verlautbarungen der Sieger oder der von ihnen eingesetzten deutschen Beauftragten brachte. Die Auflagen waren niedrig. Papier war knapp.

Etwas besser war es beim Rundfunk bestellt, wenn man noch über ein funktionstüchtiges Radiogerät verfügte. Aber auch hier erfuhr man nur, was die Sieger die Besiegten wissen lassen wollten. Ein Geheimtip war die Möglichkeit, in Nachtstunden, wenn nicht gerade Stromsperre war, in bestimmten Wellenbereichen Programme von deutschsprachigen Sendern wie Beromünster aus der Schweiz oder Luxemburg zu empfangen. Ansonsten waren alle Menschen hinreichend damit beschäftigt zu überleben. Die Sorge um Essen und Obdach überschattete alles.

Wer aber von den Siegern für würdig oder unentbehrlich befunden wurde, im staatlichen oder gesellschaftlichen Bereich Funktionen zu übernehmen, hatte es leichter. Diese Leute hatten manche Privilegien, die es ihnen auch ermöglichten, parteipolitische Aktivitäten zu verfolgen. In der Sowjetischen Besatzungszone war dies deutlich früher als im Westen der Fall. Bereits der Befehl Nr. 2 des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) vom 10. Juni 1945 gestattete „die Bildung und Tätigkeit aller antifaschistischen Parteien, die sich die endgültige Ausrottung der Überreste des Faschismus und die Festigung der Grundlage der Demokratie und der bürgerlichen Freiheiten in Deutschland und die Entwicklung der Initiative und Eigentätigkeit der breiten Massen der Bevölkerung in dieser Richtung zum Ziel setzen“.

Ob diese Voraussetzung erfüllt war, kontrollierte natürlich die Smad. Dennoch führte dieser Befehl dazu, daß sich 1945 innerhalb eines Monats in der sowjetischen Zone und in Berlin die Parteien KPD, SPD, CDU und LDP gründen konnten. Ihre Anleitung und Kontrolle erfolgte durch Offiziere der Informationsverwaltung der SMAD, die im Oktober 1945 unter der Leitung von Oberst Sergej Tjulpanow etabliert wurde. Tjulpanow erschien geeignet, weil er über gute Deutschkenntnisse und schon langjährige Kontakte zur Exil-KPD in Moskau verfügte. Als er im Herbst 1948 endgültig in die Sowjetunion zurückgerufen wurde, erstattete er den Abschlußbericht, der nunmehr auf deutsch und über das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung herausgegeben von dem durch einschlägige Publikationen ausgewiesenen Historiker Gerhard Wettig vorliegt. Er hat eine für das Verständnis des Berichts nützliche Einführung beigesteuert und die inzwischen reichhaltige russische Literatur in seiner Kommentierung berücksichtigt.

Tjulpanows Bericht wird von Zeitgenossen, die ihn noch zu sowjetischer Zeit erleben durften, mit besonderem Interesse erwartet. Er war einer der wenigen Offiziere der Roten Armee, die es nicht nur in der DDR, sondern auch im Westen Deutschlands zu einem gewissen Bekanntheitsgrad, vielleicht sogar Popularität gebracht haben. Die Ursache ist – wie auch in anderen Fällen festzustellen, etwa bei dem Botschafter Falin und dem Geheimdienstler Putin – der Irrtum, ein gut Deutsch sprechender und an deutscher Kultur interessierter Russe müsse zwangsläufig auch irgendwie ein Freund der Deutschen sein. Für diese These gibt es jedoch auch in Tjulpanows Bericht, der ohne die Anlagen etwa 250 Druckseiten umfaßt, keinen Beleg. „Drei Jahre Arbeitserfahrung der Informationsverwaltung der Smad (Oktober 1945 bis Oktober 1948)“ ist der Bericht eines Polit-Bürokraten für andere übergeordnete Bürokraten.

Er schildert und bewertet in allgemeinen Floskeln die Arbeit der von der Smad in ihrer Zone zugelassenen Organisationen, besonders natürlich der KPD und SPD, ab 1946 vereinigt in der SED, der „bürgerlichen“ Parteien CDU und LDP, denen generell eine „nationalistische und chauvinistische“ Propaganda nachgesagt wird, sowie der Massenorganisationen, wie Gewerkschaften und „Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe“, Frauenbund, FDJ oder „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes.“

Alle wurden von den Offizieren der Informationsverwaltung „angeleitet,“ „beraten“ und „unterstützt“. Wenn etwas besser lief als in den Westzonen, die Wahlbeteiligung zum Beispiel höher war, wurde darauf ausdrücklich hingewiesen. „Negative“ Einflüsse aus dem Westen wurden thematisiert; als besonders gefährlich galt vor allem die Arbeit der „Schumacherlinge“ um den antitotalitären SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher in Hannover.

Stolz war Tjulpanow – von seinem Standpunkt als Kommunist aus nicht zu Unrecht – auf die Bodenreform von 1946. Sie „diente als Hauptinstrument zur Demokratisierung des deutschen Dorfes. Sie hob die politische Aktivität der Bauern auf ein höheres Niveau und unterminierte die wirtschaftliche Basis der Grundbesitzer“, wie er schreibt.

Tjulpanow hat sich selbstverständlich stets bemüht, den ebenso sprunghaften wie detailierten Anweisungen Stalins gerecht zu werden. Wenn dies nicht gelang, suchte man in Stalins Umgebung und im Zentralkomitee der KPdSU gern die Schuld bei ihm, dessen Position somit stets gefährdet war. Im Herbst 1947 mußte Tjulpanow seinen Posten sogar für einige Zeit verlassen. Da man ihn aber weder auf eine wirklich politische Entscheidungsposition befördern wollte, noch den Oberst durch einen Besseren ersetzen konnte, durfte er zurückkehren und hielt sich insgesamt drei Jahre lang auf seinem Schleudersitz.

In den Jahren 1945 bis 1948 entwickelte sich das ursprünglich freundschaftliche Verhältnis zwischen dem vom Haß auf die Deutschen bestimmten US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt und dem sowjetischen Diktator Stalin zum Kampf um die Weltherrschaft ihrer Staaten – erst nur in Europa, bald aber in der ganzen Welt. Dieser Kalte Krieg wurde bestimmt von ideologischen Vorgaben, wirtschaftlichen Möglichkeiten und militärischem Kalkül und Potential. Den Kampf um die Gunst der eben mühsam genug besiegten Deutschen konnte Stalin ebensowenig gewinnen wie seine Nachfolger.

Auch Tjulpanow sieht in seinem Bericht vom Oktober 1948 die Westmächte nur noch als Gegner, wenn nicht gar Feind. Wer sich für die sowjetische Sicht auf ihre Möglichkeiten in Deutschland in den Anfängen des Kalten Krieges interessiert, entdeckt in diesem Buch manches interessante Detail, etwa zu unterschiedlichen Meinungen von SED und SMAD über die Teilnahme an der Konferenz der deutschen Ministerpräsidenten der Länder in München 1947. Wirklich neue Informationen zur sowjetischen Deutschlandpolitik bringt es jedoch nicht. Umgeschrieben werden muß weder die Geschichte der DDR noch der Teilung Deutschlands.

Gerhard Wettig (Hrsg.): Der Tjulpanov-Bericht. Sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, gebunden, 424 Seiten, 39,90 Euro

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