© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/13 / 18. Januar 2013

„Ich kann nur warnen!“
Ist Niedersachsen tatsächlich die Richtungswahl für die Bundestagswahl im Herbst? Eher noch als das Schicksal der FDP könnte sich am Sonntag das der SPD entscheiden, meint der Publizist und ehemalige FAZ-Mitherausgeber Hugo Müller-Vogg
Moritz Schwarz

Herr Dr. Müller-Vogg, ist die Niedersachsenwahl tatsächlich „der“ Richtungsindikator für die Bundestagswahl?

Müller-Vogg: Nein, denn danach kann bis zum voraussichtlichen Wahltag am 22. September noch viel passieren.

Warum wird sie dann als solche gehandelt?

Müller-Vogg: Weil die Medien sie dazu aufblasen. Sie machen mit diesem Interview doch selbst dabei mit.

Aber ... selbstverständlich nur um das Ganze kritisch zu hinterfragen ...

Müller-Vogg: Natürlich ... Nun, nach meiner Ansicht ist die Niedersachsenwahl vor allem für die SPD von entscheidender Bedeutung.

Allgemein wird sie allerdings als Schicksalswahl der FDP betrachtet.

Müller-Vogg: Nicht unbedingt ...

Wenn die Partei den Wiedereinzug verpaßt, gilt sie vielen für die Bundestagswahl als erledigt.

Müller-Vogg: Entscheidend ist gar nicht, ob ihr der Wiedereinzug gelingt.

Sondern?

Müller-Vogg: Entscheidend ist, ob ihr Ergebnis ausreicht, um mit der CDU eine Koalition zu bilden. Denn selbst wenn sie es schafft, ist das noch keineswegs sicher. Falls nicht, wird der Führungsstreit erneut ausbrechen und Philipp Rösler wird gehen müssen.

Wird er das?

Müller-Vogg: Wenn er klug ist, wird er es von sich aus tun. Denn im Grunde wäre dies eine gesichtswahrende Lösung für ihn. Besser so, als obendrein noch an der Fünfprozenthürde gescheitert zu sein.

Natürlich, aber wenn es für die Koalition doch reicht?

Müller-Vogg: Manche meinen, ein solcher Erfolg wäre das größte Pech für die Partei, denn nur mit einer Niederlage könne die FDP Rösler noch rechtzeitig vor der Bundestagswahl loswerden.

Was halten Sie davon?

Müller-Vogg: Ich meine, Rainer Brüderle ist der Mann, der im Herbst am ehesten die Traditionswähler der FDP zurückholen kann.

Inhaltlich besteht allerdings gar kein Unterschied zwischen Rösler und Brüderle, letzterer ist, so die „Nürnberger Nachrichten“, lediglich „sehr viel besser gelaunt“.

Müller-Vogg: Rainer Brüderle ist auch nicht die Zukunft der FDP.

Sondern?

Müller-Vogg: Das wahrscheinlichste Szenario sieht so aus, daß etwa 2015 Christian Lindner den Parteivorsitz übernimmt.

Der österreichische „Standard“ meint, daß „eine bloße ’Rübe ab‘-Politik keine Lösung ist“: Nicht Rösler sei das Problem, sondern „das fehlende Profil der FDP“. Eine inhaltliche Neuausrichtung tue not.

Müller-Vogg: Gute Inhalte allein bringen gar nichts, wenn es nicht jemanden gibt, der diese Inhalte glaubwürdig und mit Erfolg vertritt – genau das ist das Problem mit Rösler.

Moment, die Partei war bekanntlich schon vor Rösler in der Krise.

Müller-Vogg: Das Elend der FDP begann bereits 2009. Die Partei hätte keiner Koalitionsvereinbarung zustimmen dürfen, in der Steuersenkungen nicht verbindlich festgelegt sind! Ich bin sicher, hätte Guido Westerwelle der Union damals die Daumenschrauben angesetzt, hätte er sich durchsetzen können. Zumal er zuvor ja bewiesen hatte, daß man für Rückgrat in der Politik belohnt wird.

Inwiefern?

Müller-Vogg: Als nach der Bundstagswahl 2005 Rot-Grün bereit gewesen wäre, ihm für eine Ampel-Koalition alles zu geben, erlag er der Verlockung nicht, sondern ging tapfer in die Opposition.

Also zählen Inhalte doch!

Müller-Vogg: Natürlich! Nur, was ist denn gemeint, wenn jetzt mancher von einer Neuausrichtung der Partei spricht? Ich kann nur warnen: Wenn die FDP glaubt, ihre Krise dadurch lösen zu können, daß sie auch noch ins Lager der Umverteilungsparteien wechselt – Wolfgang Kubicki hat ja mitunter solche Anwandlungen –, dann kann sie gleich zum Registergericht gehen und dort ihre Selbstauflösung beantragen.

In einem Beitrag für die „Bild“-Zeitung warnen Sie gar: „Ein Bundestag ohne FDP wäre wie eine Fußballelf ohne Abwehr.“

Müller-Vogg: Nur noch zwei Prozent in den aktuellen Umfragen, tiefer geht’s kaum! Auch wenn die FDP es meiner Meinung nach im Herbst schaffen wird: Die Gefahr, daß die Liberalen dem nächsten Bundestag nicht mehr angehören, ist real. Das hätte Folgen über die nächste Regierungsbildung hinaus.

Nämlich?

Müller-Vogg: Erstens, ein Ausscheiden aus dem Bundestag wäre der Anfang vom Ende der FDP. Zweitens bekämen wir eine andere Republik.

Vor einer „Volksrepublik Deutschland“ haben Sie schon 2009 in Ihrem gleichnamigen Buch gewarnt.

Müller-Vogg: Zu Recht, dabei ging es damals „nur“ um die Gefahr einer rot-rot-grünen-Koalition. Jetzt droht zusätzlich der Untergang der Liberalen. Ohne die hätten die Umverteilungsparteien SPD, Grüne und Linke endgültig die Mehrheit. Also jene Parteien, die von morgens bis abends darüber nachdenken, wie man die Steuern, Abgaben und Staatsausgaben erhöhen kann.

Da wäre allerdings noch die Union.

Müller-Vogg: Die würde sich ohne den Aufpasser FDP den linken Parteien anpassen.

Und wenn die Bürger statt der FDP die „Freien Wähler“ in den Bundestag wählen?

Müller-Vogg: Den Freien Wählern gebe ich auf Bundesebene keine Chance. Herrn Aiwanger traut niemand zu, Europas Probleme zu lösen. Und die NPD-Anhänger, die zu seinen Veranstaltungen strömten, sind da keine Hilfe.

Aiwanger grenzt seine Partei aber strikt gegen Rechtsradikale ab.

Müller-Vogg: Das ändert nichts daran, daß seine Parolen dort auf offene Ohren stoßen.

Die Freien Wähler wären allerdings eine echte Alternative zur Umverteilungspolitik, denn auf ganz großer Ebene – wo es um Budgets größer als der Bundeshaushalt geht, bei der „Euro-Rettung“ – macht die FDP nämlich völlig hemmungslos mit.

Müller-Vogg: Solange die FDP mitregiert, gibt es keine Eurobonds. Die bedeuteten eine gigantische Umverteilung zu Lasten Deutschlands.

Von noch größerer Bedeutung bezüglich der Bundestagswahl als für die FDP sei die Niedersachsenwahl für die SPD, sagen Sie. Warum das?

Müller-Vogg: Wenn es in Hannover für Rot-Grün reicht, ist der Fehlstart von „Pannen-Peer“ vergessen. Bleibt es dagegen bei Schwarz-Gelb, wird das dem Kanzlerkandidaten zugeschrieben.

Für die CDU wäre eine Niederlage doch genauso peinlich.

Müller-Vogg: Keineswegs, die Union könnte eine Schlappe in Niedersachsen bis zur Bundestagswahl weit einfacher ausbügeln als die SPD. Schon unter Kohl hat sie Landtagswahlen verloren und anschließende Bundestagswahlen gewonnen.

Woher kommen denn Steinbrücks ständige Patzer, die es so wichtig machen, daß der SPD endlich ein Erfolg gelingt?

Müller-Vogg: Steinbrück ist überheblich, er glaubt, er könne über Wasser laufen. Dieses Phänomen erleben Sie immer wieder, denken Sie etwa an zu Guttenberg.

Viel weitgehender als Steinbrück hat Merkel sich über klassische Stimmungen in ihrer Partei hinweggesetzt – allerdings ohne je Schaden zu nehmen, im Gegenteil! Warum gelingt das nicht auch Steinbrück?

Müller-Vogg: Weil Angela Merkel dabei nie provoziert hat. Sie ist ihren Weg in kleinen Schritten gegangen und hat nie versucht, ihr Gegenüber die Niederlage auch spüren zu lassen. Nur ein Beispiel: Es wäre ihr viel lieber gewesen, Norbert Röttgen wäre von sich aus zurückgetreten, statt ihn entlassen zu müssen. Franz Josef Strauß dagegen wird nachgesagt, daß er, wenn er jemanden nicht überzeugen konnte, ihn wenigstens noch beleidigen wollte. Steinbrück ist diesbezüglich näher an Strauß als an Merkel. Denken Sie nur an „Zug um Zug“, das Buch, das er zusammen mit Helmut Schmidt gemacht hat: Das strotzt nur so vor Verachtung für Parteifunktionäre und Hinterbänkler!

Bei Gerhard Schröder hat es trotz „Basta!“-Mentalität doch auch funktioniert.

Müller-Vogg: Irrtum, es hat auch bei Schröder nicht geklappt: Als er die SPD auf „Agenda“-Kurs zwang und sein berühmtes „Basta!“ aussprach, hatte er die Partei verloren. Und Helmut Schmidt ging bekanntlich die Partei beim Thema Nachrüstung von der Fahne.

Dann hat die SPD ein grundsätzliches Problem: Laut Hans-Ulrich Jörges kann sie Bundestagswahlen nicht mit Kandidaten gewinnen, die von der Partei geliebt werden, weil die für die Mitte – wo die Wahlen angeblich entschieden werden – nicht attraktiv sind. Kandidaten, die aber in diese Mitte hineinreichen, scheitern früher oder später an der Partei.

Müller-Vogg: Es ist schon komplizierter: Schröder ist nicht in erster Linie mit Stimmen aus der Mitte gewählt worden, sondern weil nach sechzehn Jahren Kohl die Deutschen in Wechselstimmung waren. Helmut Schmidt hat überhaupt keine großen Wahlerfolge erzielt. Mit ihm als Kanzler verlor die SPD 1976 gegen Kohl deutlich an Prozenten. Aber Sie haben andererseits auch recht: SPD-Kanzler haben in der Tat das Problem, daß nach einem sozialdemokratischen Wahlsieg der durchschnittliche Parteifunktionär erwartet, jetzt würden die „hochheiligen“ Parteitagsbeschlüsse alle eins zu eins umgesetzt. Kein Kanzler kann das und hat deshalb bald Probleme mit seiner Partei. Deshalb fangen für Steinbrück – sollte es ihm gelingen, Angela Merkel zu besiegen – dann die Schwierigkeiten erst wirklich an.

Warum ist das in der Union nicht so?

Müller-Vogg: Weil die Union eine pragmatischere Partei ist. Ein Satz wie der von Peer Steinbrück im Steuerstreit mit der Schweiz: „Lieber 25 Prozent von x, als 42 Prozent von nix“, leuchtet in der Union den meisten ein, in der SPD zu vielen nicht.

Auf der anderen Seite kann dieser Pragmatismus auch schnell ins inhaltliche Vakuum führen. Sie etwa warten ja bekanntlich bis heute vergeblich auf die Einlösung der Reformversprechen Angela Merkels vom Leipziger Parteitag 2003.

Müller-Vogg: Diese Hoffnung habe ich längst begraben. Aber stellen Sie sich vor, wir hätten Rot-Grün – wir hätten heute schon Eurobonds!

Die „Euro-Rettung“ Angela Merkels läuft am Ende doch aufs gleiche hinaus.

Müller-Vogg: Die Hoffnung stirbt zuletzt – auch die auf eine Gesundung der Eurozone.

Sie sagen: „Wir werden derzeit von allen Parteien belogen.“

Müller-Vogg: Bismarck meinte: „Nie wird so viel gelogen wie nach der Jagd, während des Krieges und vor der Wahl.“ So ist es jetzt auch in bezug auf die Koalitionsmöglichkeiten. Ich kann die „Ausschließeritis“ der Politiker nicht mehr hören, weil ihre „Mit denen nie!“-Schwüre am Tag nach der Wahl nichts mehr wert sind. Das Wunder einer absoluten Mehrheit der Großen wird es nicht geben. Folglich kann man kaum eine Koalition ausschließen. Wenn Schwarz-Rot der einzige Weg ist, Schwarz-Grün zu verhindern, wird die SPD es tun. Eine Ampel weist die FPD mit Empörung zurück, Schwarz-Grün lehnen die Grünen kategorisch ab – noch. Pflichtgemäß schließen SPD und Grüne eine Koalition mit der Linken aus. Doch wenn es für Rot-Grün nicht reicht und die FDP keine Ampel macht, ist gut möglich, daß Deutschland ab Herbst von den SED-Nachfolgern mitregiert wird.

 

Dr. Hugo Müller-Vogg, war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der FAZ. Seitdem ist er als freier Journalist tätig, unter anderem als Kommentator der Bild-Zeitung, der Superillu, des Nachrichtensenders N24 und bis 2005 für die Welt am Sonntag. Vier Jahre moderierte er außerdem zusammen mit Luc Jochimsen und Manfred Bissinger die Talkshow „3, Zwei, Eins“ im Hessischen Fernsehen. Außerdem wurde der 1947 in Mannheim geborene Volkswirt und Politikwissenschaftler durch seine Gesprächsbände mit Angela Merkel, Horst Köhler, Christian Wulff, Hartmut Mehdorn und Roland Koch bekannt. Sein bereits zur Bundestagswahl 2009 erschienenes Buch „Volksrepublik Deutschland. ‘Drehbuch’ für die rot-rot-grüne Wende“ ist nach wie vor von erstaunlicher Aktualität. Eine gewitzte journalistische Anti-Utopie: Das Buch beginnt am Nachmittag des Wahlsonntags und entwirft in frappierend realistischem Stil den drohenden Verlauf der Ereignisse bis zur Bildung der ersten rot-rot-grünen Bundesregierung.

www.hugo-mueller-vogg.de

Foto: Plakat der FDP im niedersächsischen „Schicksalswahlkampf“: „Schon Otto von Bismarck wußte, nie wird so viel gelogen wie nach der Jagd, während des Krieges und vor der Wahl“

 

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