© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/13 / 18. Januar 2013

Pankraz,
F. Villon und der Hintern am Galgen

Es ist 2013 nicht nur Wagner- und Verdi-Jahr, sondern auch Villon-Jahr. Im Januar 1463, vor 550 Jahren, wurde der in Paris als Mörder, Bandit und Dieb zum Tode durch den Strang verurteilte François Villon (31) in letzter Minute per Königsdekret vorm Galgen gerettet und aus dem Gefängnis gejagt. Draußen war es eiskalt, und der nur unzulänglich bekleidete Delinquent verschwand im Nebel. Man hat nie wieder etwas von ihm gehört.

Es war übrigens nicht die erste Beinahe-Hinrichtung, die Villon erlebte. Im Dezember 1457 war es schon einmal so weit gewesen: Der Verurteilte stand bereits unterm Galgen, da traf der reitende Bote mit dem Begnadigungsbrief des Herzogs Charles d’Orléans ein, und Villon kam frei. Vorher hatte er in der Todeszelle statt eines Abschiedsbriefes einen Vierzeiler verfaßt, der ihn später weltberühmt machen sollte und der folgendermaßen geht:

„Je suis Françoys, dont il me poise, / Né de Paris emprès Pontoise. / Et de la corde d’une toise/ Sçaura mon col que mon cul poise.“ In der deutschen Übersetzung Paul Zechs (von Pankraz leicht redigiert): „Ich bin François, was mich in Kummer wiegt, / Geboren in Paris, das bei Pontoise liegt. / Und von dem Strick, der sich recht praktisch schmiegt, / Erfährt mein Hals, wie schwer mein Hintern wiegt.“

Villon war also nicht nur Gangster, sondern auch Dichter. Die Dokumente seines Erdengangs bestehen nur aus knappen amtlichen Eintragungen, Polizeiberichten und Gerichtsprotokollen, sein literarisches Werk aus zwei angesichts von Strafprozessen und Todesurteilen verfaßten, aber in rasanten Versen geschriebenen, hoch ironischen „Testamenten“ nebst einigen Balladen, die die Testamente umkreisen. Zwischen Gangsterei und Verseschmieden gibt es einen ganz engen Zusammenhang, eine Symbiose geradezu. Die Verse sind so etwas wie das Kleid der Verbrechen.

Jeder Versuch von Interpreten, die Symbiose aufzuspalten, die Verse von den schnöden Lebensdaten zu trennen und gewissermaßen in den Unschuldsstand zu versetzen, muß scheitern; das Böse bricht überall durch. Und Villon war kein „Sozialfall“, kein unterdrücktes Hascherl der Unterklasse, dem alle legalen Wege nach oben durch die Herrschenden versperrt wurden. Er entstammte adligem Hause, seine Eltern waren früh verstorben, und er kam in die Obhut des Stiftsherrn und bekannten Rechtsgelehrten Guillaume de Villon, dessen Namen er auch annahm.

Guillaume verschaffte ihm einen Platz an der Artistenfakultät der Pariser Universität, und er erlangte dort den Grad eines Magisters. Er sollte Medizin, Jura oder Theologie studieren, aber statt dessen tauchte er alsbald ins kriminelle Milieu ab, wurde „Coquillard“, Mitglied bei den sogenannten „Muschelbrüdern“, einer skrupellosen Mafiabande, die die ganze erste Hälfte des 15. Jahrhunderts hindurch dem französischen Leben schwer zu schaffen machte und es zeitweise regelrecht erstarren ließ.

Alle seit der Romantik des 19. Jahrhunderts herumgereichten Berichte, denen zufolge Villon ein subrevolutionärer akademischer Bänkelsänger gewesen sei, eine Art Béranger oder Wolf Biermann der frühen Neuzeit, sind frei erfunden, es gibt dafür nicht den geringsten Beleg. Villons Balladen zirkulierten zu seinen Lebzeiten wohl eher in gehobenen politischen Kreisen, so wie sich auch heute noch gewisse schwerreiche und mächtige Feinschmecker manchmal an deftigen Zynismen aus Mafiakreisen delektieren.

In den ersten Jahrzehnten nach Villons Verschwinden wurden die Balladen und die beiden Testamente dadurch erhalten und verbreitet, daß vermögende Literaturliebhaber sie in ihre Sammelhandschriften aufnahmen, welche sie dann bei Kalligraphen zu Prachtbänden gestalten ließen, zur exklusiven Lektüre für den engeren Bekanntenkreis. Erst 1489 wurde Villon zum ersten Mal gedruckt. Seit etwa 1550 sank er faktisch in Vergessenheit; nur das frivole Rokoko um 1730 widmete ihm zwei kleine Neuauflagen.

Die große Stunde des Mannes kam im 19. Jahrhundert, als sich die Auffassung verbreitete, daß Literatur und Kunst nicht dem Schönen, Guten und Richtigen zu dienen hätten, sondern dem Aufregenden, Sensationellen und ganz und gar Andersartigen. Da kam der Hintern am Galgen gerade recht. Lyriker wie Paul Verlaine oder Arthur Rimbaud nahmen ihn sich zum Vorbild, in Deutschland folgten, nach der ersten Übersetzung von Richard Dehmel, Georg Heym, Klabund, Paul Zech, nicht zu vergessen Bert Brecht, welcher einige der Villon-Balladen in seine Dreigroschenoper einbaute (natürlich ohne den wirklichen Autor zu nennen).

Rimbaud, Heym, Klabund, Brecht – das waren, was immer sie sonst sein mochten, unbestreitbar sensible Sprachmeister; woher ihre Fasziniertheit ausgerechnet von Villon? Der seinerseits war ja nicht einfach ein Charakterkrüppel, der zwar im Leben bewußt Unheil anrichtet, als Poet aber durchaus dem Wahren, Guten und Schönen die Ehre erweist und in ihrem Zeichen wundersame Werke schafft. Sondern Villon stellte das Böse ausdrücklich aus – und trotzdem leuchteten seine Verse und bezauberten Sprachmeister! Ist die Poesie vielleicht doch nur eine Hure, die alles mit sich machen läßt, wenn man nur richtig mit ihr umzugehen versteht?

Nun, der Galgenvogel und Poet Villon hat in seinem tiefsten Inneren wohl selber nicht an dergleichen geglaubt. Er wollte der Sprache, bei all seiner Frechheit, offenbar doch nicht zu nahe treten. Sonst hätte er 1462 kaum die „Ballades en jargon“ geschrieben, die die schlimmsten Gemeinheiten enthalten sollen, aber „in reinem Gaunerjargon“ (Peter Brockmeier) geschrieben sind , jenseits jeder wirklichen Sprache, und die niemand versteht.

Villons vorletztes Gedicht, bevor er den „Hintern am Galgen“ schrieb, war die „Ballade des pendus“, das Lied der Gehenkten, und das ist eines der schönsten Gedichte der Frührenaissance überhaupt, ein Stück ohne jede Frechheit, ein weher Klagegesang der Gehenkten, die am Galgen baumeln und die Passanten um Mitleid anflehen.

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