© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/13 / 18. Januar 2013

„Falsch erlebt“
Redakteure und ihre Heimat: Christian Dorn erzählt von seinen Erinnerungen an die DDR / JF Serie, Teil 3
Christian Dorn

Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer, das sind auch all die Soldaten, die vorbeimarschieren, im gleichen Schritt und Tritt, und wenn wir groß sind, wollen wir – nach dem Weg fragen? Kurz vor dem Abitur, Ende der achtziger Jahre, beauftragte unser Physiklehrer (Herr Töpfer) an der EOS „Bertolt Brecht“ Halberstadt, zugleich Parteisekretär der Schule, ausgerechnet mich, zu Beginn der nächsten Unterrichtsstunde fünf Minuten über meine Heimatstadt zu sprechen, was sie mir bedeute. Oder hatte er nur gefordert, über meinen Weg von zu Hause zur Schule zu reflektieren? Ich weiß nur noch, daß ich eigentlich „falsch Zeugnis“ abzulegen hatte, und doch ehrlich sein wollte.

Tatsächlich – um nicht historisch-ideologische Allgemeinplätze vom planmäßigen Fortschritt der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ zu passieren – sprach ich über den Schulweg, vorbei an der Leerstelle des am 8. April 1945 von anglo-amerikanischen Bombern zerstörten Halberstädter Stadtzentrums. Touristen, die einen ebenda nach dem Weg dorthin fragten, antwortete ich immer, beinahe amüsiert über die darauf folgende Ratlosigkeit: „Sie stehen mittendrin!“ – in einer innerstädtischen Brache. Was ich vor dem Lehrer und der Klasse als Bezugspunkt hervorhob, waren die Silhouette der Harzvorstadt, der Dom und die ungleich hohen Türme der Martini-Kirche als letztes Zeichen des alten Stadtzentrums. Relikte einer Zeit, die selbst die Gesellschaft des Neuen Menschen zu respektieren hatte. Doch sonst?

Die Frage zur Heimat hatte mich im Fragebogen des Buches über 25 Jahre JF in Verlegenheit gebracht, ich flüchtete mich in die Formulierung „eine schöne Idee“. Die ist es, wenn ich andere davon erzählen höre oder davon lese. Für mich ist der Begriff verknüpft mit den Grenzen des sozialistischen „Überbaus“, dem Großraumgefängnis DDR.

Da ist in meiner Erinnerung zuerst die verlogene Sentimentalität des Schulliedes „Unsere Heimat“: Ja, wir lieben die Heimat die schöne, und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört. Weil sie unserem Volke gehört!“ In einem beschwörenden Ton hob sich der Schlußrefrain in eine stimmliche Höhe, die dem „ersten sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden“ eine sakrale Aura andichtete.

Da ist das Unterrichtsfach „Heimatkunde“ in der Unterstufe der Anne-Frank-Oberschule, in dem wir – es war wohl die dritte Klasse – an einem Samstagvormittag plötzlich im Schulgarten praktische „Pionierhilfe“ leisten mußten. Weil ich schon für den Wochenendausflug gekleidet war, fluchte ich über den Dreck auf meinen Sachen: „Pionierscheiße!“ Die Lehrerin hörte es und giftete in meine Richtung, daß mir das Herz bis zum Halse schlug: „Christian, was hast du da gesagt? Willst, du daß deine Eltern ins Gefängnis kommen? Dann kommst du ins Heim!“ Es war nur eine Schrecksekunde von wenigen Minuten – hinreichend, um sich noch Jahrzehnte daran zu erinnern.

Heimat ist auch die Erinnerung an eine Sommerurlaub im Alter von fünf Jahren. Mit meinen Eltern bin ich in Schierke, untergebracht im Hermann-Gieseler-Heim des FDGB. Auf einer Wanderung mit zwei anderen Familien stoßen wir plötzlich auf den Grenzstreifen; zwei Familienväter – darunter mein Vater – sehen sich ein wenig um und werden daraufhin von zwei Grenzsoldaten festgenommen – nur wenige Meter von uns, den Müttern und Kindern, entfernt. Obgleich der Ausflugscharakter aufgrund der Badesachen offensichtlich ist, werden mein Vater und der andere mit entsichertem Karabiner auf der Ladefläche eines LO nach Elend – heute geographischer Mittelpunkt Deutschlands – transportiert. Der Funkspruch der Grenzer bleibt unvergessen: „Zwei Grenzverletzer festgenommen! Die anderen haben sich zurückgezogen.“ Dabei hatten die Familien in Sichtweite des Geschehens gegen die Festnahme lauthals protestiert.

In Erinnerung ist mir – neben der Rückkehr meines Vaters fast schon im Morgengrauen nach sieben Kilometern Fußmarsch (nach der Entlassung, die nur der zufälligen Bekanntschaft des anderen Familienvaters mit dem Grenzkommandeur geschuldet war, beide stammten aus demselben Ort) – mein Blick über den Grenzstreifen: Jenseits, im Westharz, meinte ich die rosa-blauen Gebirgsmassive der Alpen zu sehen: Das Wolkenmassiv am Horizont hinterließ bei mir einen überwältigenden Eindruck.

Heimat war schon damals kein regionaler Begriff. Prägender waren familiäre Bezugspunkte: Leipzig, Dresden, mein Geburtsort Blankenburg am Harz oder der „Westen“ mit Braunschweig und Hamburg. Kurios war auch die Zuordnung durch Fremde. Da ich kaum Ostklamotten trug, konnte es woanders vorkommen, daß ich aufgrund meiner hochdeutschen Aussprache für einer „von drüben“ gehalten wurde. Das war vielleicht das früheste, persönlichste Bekenntnis zur Einheit, eigentlich ohne mein Zutun. „Heimat“ erinnert mich an das Ritual meines Vaters, wenn er den alten Schulatlas von Haack Gotha (1957) herausholte und die Doppelseite aufschlug, auf der noch die ganze Deutschlandkarte verzeichnet war.

Zu den letzten Erinnerungen, die mir zum Thema „Heimat“ in den Sinn kommen, zählen die Wanderungen Ende der achtziger Jahre auf die Zeterklippen im Harz, der letzten begehbaren Erhebung direkt vor dem Brocken. Obschon kein Grenzgebiet, war diese Region von allen offiziellen Karten getilgt. Nur wenige Wanderer fanden hierher, nicht zuletzt um Blaubeeren zu suchen, was eine ganz frühe Kindheitserinnerung an ein schönes Bilderbuch wachrief: „Mauz half Hoppel Beeren suchen / Für Himbeersaft und Blaubeerkuchen.“

Eine befreundete Familie, mit der wir dort wanderten, wartete schon seit Jahren auf die Genehmigung ihres Ausreiseantrages. Ihnen las ich mein neuestes Gedicht „Wohnhaft DDR“ vor. War für diese „staatsfeindliche Hetze“ – die Betonung der zweiten Silbe – nicht jüngst jemand zu mehrjähriger Haftstrafe verurteilt worden? Ich weiß es nicht mehr, außer, daß damals Schulaufsätze, die das Thema vermeintlich „verfehlt“ hatten, das Prädikat „falsch erlebt“ erhielten.

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