© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/13 / 18. Januar 2013

Jenseits von Tiefenbohrungen
Mit ihrem Bericht bleibt die deutsch-italienische Historikerkommission über die Jahre 1943 bis 1945 in eingefahrenen Gleisen
Klaus Hammel

Am 19. Dezember wurde in Rom durch die Außenminister Deutschlands und Italiens der Bericht einer deutsch-italienischen Historikerkommission vorgestellt, die im Mai 2009 im Zusammenhang mit der Zurückweisung einer Klage Italiens vor dem Internationalen Gerichtshof hinsichtlich Entschädigungszahlungen für von Deutschen verübte Kriegsverbrechen eingesetzt worden war.

Die Kommission aus insgesamt zehn Wissenschaftlern beider Länder sollte sich mit der deutsch-italienischen Kriegsvergangenheit, insbesondere mit dem Schicksal italienischer Militärinternierter beschäftigen und damit zu „einer gemeinsamen Erinnerungskultur von Deutschen und Italienern“ beitragen. Nach der Behandlung der Themen des Verhältnisses von Deutschen und Italienern zwischen 1943 und 1945, der Perspektive deutscher Soldaten, der Erfahrungen der Italiener mit der Besatzungsmacht und dem Schicksal der Militärinternierten schließt die Kommission ihren Bericht mit einer Reihe von Empfehlungen ab. Neben der Aufarbeitung der deutsch-italienischen Geschichte unter „erfahrungsgeschichtlichen Aspekten“ und der Fertigstellung einer noch fehlenden Gesamtdarstellung des Kriegsgeschehens in Italien zwischen 1943 und 1945 empfiehlt die Kommission nachdrücklich, eine Gedenkstätte für die italienischen Militärinternierten in Berlin einzurichten.

Beurteilt man die Kommissionsarbeit, an der neben den Kommissionsmitgliedern noch 14 weitere Wissenschaftler wenigstens zeitweise mit Zuarbeiten beschäftigt waren, dann kann man das Ergebnis von drei Jahren Arbeit nur als enttäuschend bewerten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen geht der Erkenntnisgewinn nicht über das hinaus, was bisher durch die Forschung der Fachwelt oder der allgemeinen Öffentlichkeit präsentiert worden war – so durch Historiker, die nun auch Mitglieder der Kommission waren. Richtigerweise hatte sich die Kommission im Hinblick auf die gemeinsame Erinnerungskultur, bei der angeblich „Legenden“ in der Selbstwahrnehmung in beiden Ländern zu überwinden sind, nicht zu viel vorgenommen. Nach eigener Erklärung ging es ihr darum, „den Blick für die andere Seite zu öffnen“, um nicht (mehr) „die eigene Sichtweise absolut zu setzen“.

Die Ergebnisse der Kommissionsarbeit sowie die Zielsetzungen für die weiteren Forschungsansätze zeigen, daß es dabei gilt, bisherige Tabugrenzen nicht zu überschreiten. Der erfahrungsgeschichtliche Ansatz (und logischerweise dann auch die zu erarbeitende Gesamtdarstellung des Krieges in Italien, die den Rahmen für eine erfahrungsgeschichtliche Präsentation bilden muß) „soll nicht (…) einer Neubewertung historischer Fakten dienen“, er führt „zu keiner grundsätzlichen Revision gültiger Geschichtsdeutungen oder gar zu einer Relativierung von deutschen Kriegsverbrechen in Italien“.

Zu den Kategorien nicht anzweifelbarer deutscher Kriegsverbrechen gehört die willkürliche Tötung (Ermordung) italienischer Zivilisten, zuweilen verbunden mit einem „Anlaß“ (Säuberungsmaßnahmen, Vergeltungsaktionen), nach Auffassung der Kommission aber häufig auch ohne Anlaß. Die Aktionen sollen künftig in einem „Atlas der Gewalt“ dargestellt werden, in den etwa 5.000 Gewalttaten aufgenommen werden. Bisher ist die Wissenschaft von einer exakten Zahl von 9.180 getöteten Zivilpersonen ausgegangen. Diese Zahl stützte sich auf eine Statistik der „Enciclopedia dell’antifascismo e della Resistenza“. Auf der Grundlage einer Datenbank gibt der Kommissionsbericht nunmehr eine Anzahl von 3.888 Gewalttaten an, bei denen 7.322 Zivilpersonen getötet (ermordet?) worden seien.

Da die Berichte, auf denen die Datenbank beruht, unvollständig sind, geht die Kommission von einem Schätzwert von etwa 10.000 bis 15.000 Getöteten aus – eine Steigerung von maximal über 100 Prozent im Vergleich zur bisher „ermittelten“ Zahl! Noch 2010, als Carlo Gentile schon in der Kommission arbeitete, ist dieser italienische Historiker in einer Studie noch von einem Schätzwert von 10.000 Getöteten ausgegangen, wobei eine nicht spezifizierte Anzahl der Getöteten faschistischen Milizen oder Polizeiverbänden zugeordnet wurde und er angab, daß ein gewisser Umfang der Getöteten auf Repressal- oder Geiselmaßnahmen beruhte, die nicht zwangsläufig Mordtaten gleichgestellt werden können.

Auf welche Weise wurden die Gewalttaten, bei denen 7.322 Zivilpersonen angeblich ums Leben kamen, ermittelt? Sie wurden auf der Grundlage von Anzeigen aus der Bevölkerung im Zeitraum zwischen der Befreiung und dem Sommer 1946 von Carabinieri-Kommandanturen registriert und aus den verschiedenen italienischen Provinzen an zentrale italienische Dienststellen weitergeleitet. „Die Carabinieri haben sich darauf beschränkt, die Anzeigen der Privatpersonen aufzunehmen und Informationen zu sammeln, ohne sie auf ihre Richtigkeit zu überprüfen“, so der Kommissionsbericht.

Wer hat in den Jahrzehnten bis heute diese Angaben auf Zuverlässigkeit und Richtigkeit überprüft, aufgrund welcher anderer Sachbelege und mit welchen Methoden? Wer ist nun, fast siebzig Jahre nach den Ereignissen, aufgrund welcher Ermittlungsmethoden in der Lage, den Schätzwert mit beweisfähigen Angaben abzusichern, um auf dieser Grundlage zu einer dem Wahrheitsanspruch genügenden Aussage zu kommen? Mit den Zahlenangaben über Kriegsverbrechen ist es vor allem in Italien so eine Sache. Die vormals angeblich abgesicherten Daten aus der „Enciclopedia“ und die Schätzwerte von Gentile sind ein Beispiel. Die „Enciclopedia“ nennt in einem anderen Zusammenhang erneut exakt 44.720 im Kampf gefallene oder getötete (ermordete) Partisanen, während der Kommissionsbericht nunmehr von 30.000 „im Kampf mit deutschen und faschistischen Truppen“ getöteten Partisanen ausgeht. Wer bis vor wenigen Jahren die Opferzahlen des „Massakers von Marzabotto“ in der Größenordnung von 1.830 Personen anzweifelte, mußte ein starkes Gemüt haben, um den daraus folgenden persönlichen Verunglimpfungen widerstehen zu können. Nunmehr gelten 770 Opfer als gesichert, immer noch eine schreckliche Zahl, gewiß. Auf welchen Recherchen beruhte jedoch die damalige Opferzahl und mit welcher Zielsetzung wurde sie seinerzeit in die Welt gesetzt?

Die Kommission verweist auf eine weitere, im Deutschen Historischen Institut in Rom erstellte Datenbank, aus der über die Zeit (offenbar lückenlos?) die „Stationierung“ der deutschen Truppen in Italien hervorginge. Diese Datenbank soll mit den definierten Gewalttaten im erwähnten „Atlas der Gewalt“ zusammengeführt werden. Dabei dürfte es unmöglich sein, heute noch eine zeitlich zutreffende Aufstellung der Einsatzräume von Regimentern und Bataillonen in Italien zu erarbeiten.

Es war mir bei der Erarbeitung meines Buches, trotz monatelanger Auswertung der Kriegstagebuch-Unterlagen auf höherer Ebene – die KTB-Unterlagen auf der Divisionsebene sind in bezug auf bestimmte Zeitphasen vernichtet – und Auswertung der vorhandenen Divisions-geschichten nicht möglich, beispielsweise eine zeitlich exakt definierte Gliederung der eingesetzten Divisionen um den Landeraum Anzio/Nettuno zu ermitteln. Selbst wenn dies möglich wäre, wäre es unter juristischen Kriterien ein Skandal, ausgehend von der Lokalität einer Gewalttat, ohne weitere Hinweise auf eine Täterschaft, ausschließlich aufgrund der Anwesenheit einer Truppe im entsprechenden Raum, „eine Identifizierung der für die Gewalttaten verantwortlichen Einheiten“ vorzunehmen. Dies hat die Kommission jedoch vor.

Diese wenigen Anmerkungen müssen genügen, um auf die Fragwürdigkeit des Berichts der Kommission zu verweisen. Nötig wäre es, durch eine Gruppe von Experten in zeitintensiver Arbeit eine grundlegende Widerlegung von weiteren Inhalten vorzunehmen, der Bericht gäbe dazu genügend Anlaß. Wo sind jedoch die Experten, welche finanziellen Mittel stünden für die Forschung zur Verfügung, noch mehr aber: Welche Rezeption würde ein solcher „Gegen-Bericht“ erfahren?

 

Klaus Hammel war Generalstabsoffizier der Bundeswehr. Vor wenigen Wochen ist von ihm im Osning-Verlag (Bielefeld) eine Gesamtdarstellung über den Italienkrieg mit dem Titel „Der Krieg in Italien 1943–45. Brennpunkt Cassino-Schlachten“ erschienen.

Foto: Die Außenminister Italiens und Deutschlands, Terzi di Sant‘Agata und Guido Westerwelle, stellen am 19. Dezember den Kommissionsbericht in Rom vor: Soll nicht Neubewertung historischer Fakten dienen

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