© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/13 / 25. Januar 2013

Der naive Glaube an die Zähmung Hitlers
Mythos zur „Machtergreifung“: Die Ernennung des NSDAP-Führers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933
Karlheinz Weissmann

Es war schon immer wünschenswert, Herrn Hitler, der die stärkste Partei im Reichstag anführt und bei der letzten Wahl fast ein Drittel der 35 Millionen Stimmen erhielt, die Chance zu geben, zu beweisen, daß er etwas mehr ist als ein Redner und Agitator. Jetzt, da die Harzburger Front wieder erneuert wurde, ist die Gelegenheit gekommen.“ Mit diesen Sätzen kommentierte die Times die Nachricht, daß Hitler am 30. Januar 1933 durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg mit der Regierungsbildung beauftragt worden war.

Der unaufgeregte Ton der Berichterstattung hatte selbstverständlich mit der Tradition des britischen Blattes zu tun, aber er unterschied sich nicht wesentlich von der Art und Weise, wie auch sonst viele Beobachter des Zeitgeschehens die Tatsache behandelten, daß der Führer der NSDAP Chef eines Kabinetts geworden war, in dem seine Parteigenossen nur zwei weitere Sitze innehatten (Wilhelm Frick als Reichsinnenminister, Hermann Göring als Minister ohne Geschäftsbereich), während die anderen Ministerien Deutschnationale – allen voran der DNVP-Vorsitzende Alfred Hugenberg – oder parteilose Fachmänner besetzten.

Natürlich sprach das nationalsozialistische Parteiblatt Völkischer Beobachter davon, daß der „Grundstein zum Dritten Reich“ gelegt worden sei, und von einem „historischen Tag“ für die Bewegung, der nun auf legalem Weg gelungen war, was sie neun Jahre zuvor auf gewaltsamem nicht erreicht hatte. Aber die meisten Kenner der deutschen Innenpolitik teilten wohl die Auffassung des Vizekanzlers Franz von Papen, der meinte, die Konservativen, die Repräsentanten der alten Eliten in Verwaltung, Armee, Diplomatie, Wirtschaft, hätten sich Hitler „engagiert“, die Verfügung über die Reichswehr und das Vertrauen Hindenburgs würden reichen, um Hitler in „zwei Monaten (…) in die Ecke gedrückt“ zu haben, bis „er quietscht“.

Für diese Unterschätzung gab es Gründe. Denn es war nicht zu übersehen, daß Hitler erhebliche Zugeständnisse machen mußte, um endlich den Auftrag zur Regierungsbildung zu erhalten. Dazu gehörte nicht nur die geringe Zahl der nationalsozialistischen Ministerposten, sondern auch die Aufgabe der Forderung nach einer Präsidialregierung, die weiter mit dem Diktaturartikel 48 der Reichsverfassung arbeitete, das – undeutliche – Versprechen, für eine parlamentarische Mehrheit zu sorgen und keine Neuwahlen durchzuführen, die die Existenz seiner deutschnationalen Partner gefährden mußten.

Wenn also Hindenburg Anfang des Jahres 1933 seinen aus Bürgerkriegs-angst, Standesbewußtsein und persönlicher Aversion gespeisten Widerwillen gegen Hitler überwand, den gescheiterten Kanzler Kurt von Schleicher entließ und den Einflüsterungen von Papens, seines „in der Verfassung nicht vorgesehenen“ Sohnes Oskar und gewisser Kreise aus Großindustrie und „Ostelbiern“ nachgab, dann nicht, weil er damit rechnete, der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ den Weg zu bahnen. Im Grunde glaubte auch er an die „Zähmung“ Hitlers.

Vieles spricht für die Einschätzung Winfried Martinis, daß der so oft als „Reaktionär“ gescholtene Hindenburg nicht reaktionär genug war. Seine Idee von der Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände, um dann die Verfassung abzuändern, am besten in Richtung auf Restauration der Monarchie, war eine Illusion oder doch so formalistisch, daß sie unter den dramatischen Bedingungen Anfang der dreißiger Jahre keine Aussicht auf Verwirklichung hatte.

Andererseits war die Vorstellung, daß der Status quo nicht aufrechterhalten werden könne, praktisch konsensfähig im Deutschland des Jahres 1933. Nur in welche Richtung die Transformation gehen sollte, blieb umstritten. Hitler nutzte diese Unsicherheit geschickt, kam vor allem den bürgerlichen Wunschvorstellungen zum Schein entgegen, – vorsorglich hatte er sich im Januar einen Frack schneidern lassen. Sein ganzes Auftreten atmete den Geist der Mäßigung. Gegenüber dem Reichspräsidenten sprach er sich für die Einbeziehung des Zentrums in die Koalition aus, gab vage Treuebekundungen zum Haus Hohenzollern ab, ließ den Aufruf der neuen Reichsregierung ganz bewußt alle Themen der traditionellen Rechten ansprechen – vom Bekenntnis zum Erbe des Bismarckreichs über den „Dolchstoß“ bis zur Notwendigkeit, den Marxismus entschieden zu bekämpfen und den abendländischen Werten wieder Geltung zu verschaffen. Darüber hinaus förderte Hitler vor allem den Eindruck, als ob seine Partei sich tatsächlich auf den Boden des Christentums stelle. Er wußte genau, daß er in dieser Phase der Entwicklung vorsichtig sein mußte.

Bezeichnenderweise hatte es noch am 29. Januar in Berlin das Gerücht gegeben, daß Schleicher mit Hilfe der Potsdamer Garnison putschen wollte. Hitlers eigene Partei war nach dem Ausscheiden ihres „Generalsekretärs“ Gregor Strasser Ende 1932 knapp einer Zerreißprobe entgangen, finanziell stand sie am Rande des Bankrotts. Einen weiteren Wahlkampf hätte sie kaum erfolgreich führen können, und die Scharfmacher in den eigenen Reihen konnten zum Problem werden, weil ihnen eine „nationale Revolution“ nicht genügte und sie sofort eine „nationalsozialistische“ verlangten.

Daß Hitler entschieden gegensteuerte, drohte allerdings auch seine Gefolgsleute zu verstören. Selbst ein so enger Vertrauter Hitlers wie Joseph Goebbels fürchtete, „der Führer“ sei zum Gefangenen der „Reaktion“ geworden. Eine Einschätzung, die sich kaum von der auf der Seite des Gegners unterschied, wo ein Sozialdemokrat wie Kurt Schumacher äußerte, man könne die veränderten Machtverhältnisse auf die knappe Formel bringen: „Adolf Hitler darf reden, Alfred Hugenberg wird handeln“. Auch die KPD sah den „offenen Faschismus“ nur in der Rolle des „Agenten“, der für das Großkapitals die Schmutzarbeit erledigte. Im übrigen war die Linke von jeder „Einheitsfront“ weit entfernt. Der SPD-Spitze schien die neue Regierung sogar lieber zu sein als die Schleichers, den man in jeder Weise zu behindern versucht hatte. Ihre abwartende Zurückhaltung, bis die Nationalsozialisten zum offenen Verfassungsbruch schritten, hat – rückwirkend betrachtet – genauso wenig bewirkt wie der Versuch der KPD, die Situation revolutionär zu nutzen, indem sie zum Generalstreik aufrief.

In jedem Fall ist die Unübersichtlichkeit der Lage am 30. Januar 1933 zu betonen, und man darf sich nicht von den Bildern des Fackelmarschs durch das Brandenburger Tor am Abend täuschen lassen. Begeistert waren nur die Anhänger der neuen Regierungsparteien. Alle übrigen warteten ab. Die Börse, die am Vortag nervös reagiert hatte, stabilisierte sich immerhin, der Getreidemarkt verzeichnete sogar eine Hausse. Stimmungsberichte zeigen sonst, daß die Bevölkerung den Regierungswechsel eher gleichgültig aufnahm, in einem Zustand der Apathie, der sich aus dem Überdruß an aller Politik erklärte, den die große Krise, die dauernden Wahlkämpfe und die Eskalation der Gewalt erklärten.

Die meisten hatten anderes im Kopf, sahen sich oft mit existentiellen Problemen konfrontiert. Beim Regierungsantritt Hitlers waren in Deutschland fast sechs Millionen Arbeitslose amtlich registriert; eine Zahl, in die die halbe Million „Erwerbsloser“ und jene vielen Millionen Kurzarbeiter nicht einbezogen waren, die kaum genug verdienten, um ihre Existenz zu fristen. Das Reichsministerium der Finanzen mußte verkünden, daß die Steuereinnahmen sich gegenüber dem Vorjahr noch einmal um 800 Millionen Reichsmark vermindert hatten.

Am 30. Januar 1933 war der „Hitler-Frühling“ jedenfalls noch weit. Der große nationale Enthusiasmus kam erst im Vorfeld der Reichstagsneuwahl vom 5. März und dann mit dem Sieg des „Kabinetts der nationalen Konzentration“. Dazwischen lagen der Reichstagsbrand und die Bereitschaft Hindenburgs, sein Mißtrauen gegenüber Hitler Stück für Stück aufzugeben und ihm das Regieren mit Notverordnungen zu erlauben, begleitet von der wachsenden Überzeugung Hitlers, daß ihm weder von einer konservativen Fronde noch von den Demokraten, noch von der Linken ernsthafte Gefahr drohte.

Der französische Botschafter in Berlin, André François-Poncet, hat im Rückblick gemeint, es sei Hitler in fünf Monaten gelungen, wozu Mussolini in Italien fünf Jahre gebraucht habe. Im Grunde ist aber weniger das Tempo der „Machtergreifung“ überraschend, eher deren Langsamkeit; abgeschlossen war der Prozeß erst nach dem Tod Hindenburgs am 2. August 1934.

Das bedeutete auch, daß es eine ganze Reihe von Möglichkeiten gegeben hätte, die Entwicklung aufzuhalten. Aber sie wurden nicht genutzt. Mit dieser Feststellung soll nicht der Interpretation Vorschub geleistet werden, daß der Untergang der Weimarer Republik zu erklären sei durch die „fatale Rolle weniger Personen und ihrer Entscheidungen“ (Karl Dietrich Bracher). Entsprechende Behauptungen dienen nur dazu, das Scheitern der Demokratie mit Hilfe einer Verschwörung zu erklären und die viel naheliegendere Einschätzung zurückzuweisen, daß die Republik letztlich an sich selbst scheiterte, nicht am Übelwollen der alten Eliten, nicht am „autoritären Charakter“ der Deutschen, nicht am Verhältniswahlrecht oder anderen Konstruktionsfehlern der Verfassung, und nicht einmal an Versailles oder dem Aufstieg der Extremisten angesichts der Weltwirtschaftskrise, sondern daran, daß es ihr – wie ein Unverdächtiger feststellte – „an dem notwendigen Lebenswillen fehlte“ (Carl von Ossietzky).

Foto: Kabinett der Regierung Hitler mit nur drei Nationalsozialisten (Hermann Göring und Wilhelm Frick, links von und hinter Hitler); der neue Reichskanzler im bürgerlichen Cut grüßt Reichspräsident von Hindenburg, Potsdam am 5. März 1933: „In die Ecke drücken, bis er quietscht“