© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/13 / 01. Februar 2013

Als Deutschland noch heil war
Literatur: Florian Illies zeichnet in seinem genial kompilierten Erfolgsbuch „1913“ ein schiefes Bild
Erik Lehnert

Mit dem Jahr 2013 verbinden sich verschiedene Assoziationen, die dieses Jahr als ein besonderes erscheinen lassen. Das hat vor allem mit historischen Jubiläen zu tun, die in diesem Jahr anstehen. So steht 1813 für den Beginn der Befreiungskriege gegen Napoleon und die Völkerschlacht bei Leipzig, die für Deutschland ein neues Zeitalter einläuteten.

Nicht so unmittelbar leuchtet die Bedeutung des Jahres 1913 ein. Es hat zumindest eine Zwitterstellung und ist kein Entscheidungsjahr wie 1813 gewesen. Diese Undeutlichkeit spiegelt sich in der Tatsache wider, daß man die damalige Gegenwart als Resultat von 1813 auffaßte und sich dieses Jahres in monumentalen Erinnerungsbauten wie dem Leipziger Völkerschlachtdenkmal erinnerte und gleichzeitig versuchte, den Impuls von Freiheit und Selbstbestimmung wieder aufzunehmen.

So jedenfalls kann man das Treffen auf dem Hohen Meißner auffassen, bei dem sich mehr als 2.000 Jugendbewegte versammelten, um einen ähnlichen Aufbruch wie 1813 zu demonstrieren. Ging es damals gegen den äußeren Feind, so war es diesmal der innere Geist der Entfremdung der Menschen vom Leben, den es zu bekämpfen galt. Andererseits, und darin liegt die Zwitterstellung, steht das Jahr 1913 völlig im Banne der nachfolgenden Ereignisse, dem zweiten Dreißigjährigen Krieg mit all seinen Folgen.

Deswegen ist die Erinnerung an 1913 für unsere Gegenwart erhellend. Denn im Grunde ist diese Gegenwart vor allem ein Resultat der Jahre nach 1913. Das ist auch der leitende Gedanke des Buches von Florian Illies, der darin das Jahr lebendig werden läßt. Der Erfolg des Buches erklärt sich nicht zuletzt daraus, daß es genau dieses Jahr 1913 ist, um das es geht. Weder das Jahr davor, das von der Katastrophe noch weit weg zu sein scheint, noch das folgende, in dem die Würfel dann gefallen waren, strahlen diesen doppeldeutigen Glanz aus.

Die geniale Idee des Buches, das Jahr in einer nach Monaten gegliederten Kompilation von Stimmen und Ereignissen auferstehen zu lassen (und so ein Bildungskompendium zu schaffen), hat landauf, landab begeisterte Rezensionen zur Folge gehabt. Gelobt wurde durchgehend die stilistische Meisterschaft von Illies (der manchmal nur etwas zu witzig sein will), der Geschichte damit wieder unmittelbar erfahrbar gemacht habe, so daß verständlich werde, daß eben 1913 unsere Gegenwart begann. Lediglich Illies Tableau an Personen und Beziehungsgeflechten zog gelegentlich eine Kritik der Auswahl nach sich.

Diese Auswahl wird aber verständlich, wenn man das Buch als Einheit betrachtet, die uns das Jahr 1913 vor allem aus der Perspektive des geistigen Lebens präsentiert. Dabei hat Illies natürlich bestimmte Vorlieben, muß aber auch der Überlieferungssituation seinen Tribut zollen. Wer keine Briefe oder Tagebücher hinterlassen hat, wird sich hier kaum wiederfinden. Es sei denn, sein Leben ist so gut erforscht wie das von Hitler, der mehr als ein halbes dutzendmal auftaucht (sogar die Geburt von Eva Braun wird nicht vergessen). Das ist zunächst verwunderlich, weil Hitler 1913 ein postkartenmalender Niemand war. Es macht aber deutlich, daß Illies sich nicht damit begnügt in der 1913er Gegenwart zu schwelgen, sondern das Ende mitbedenken möchte. Da man weiß, wie die Geschichte weitergeht, ist es unmöglich, Hitlers Präsenz im Sinne einer Offenheit der Geschichte zu interpretieren: Die Frage, was wäre, wenn Hitler es beim Malen belassen hätte, stellt sich nicht. Nicht anders verhält es sich mit Stalin, der ebenfalls einige Male auftaucht.

Der Schwerpunkt liegt aber woanders. Illies hat insbesondere die Geschichte von Kafka und seiner Felice ausgeschlachtet, läßt Thomas Mann immer wieder zu Wort kommen und präsentiert mit einer gewissen Penetranz Freud, um ganz deutlich zu machen, wie innerlich morsch und krank dieses Jahr war. Denn Freud hatte es darauf angelegt, den Menschen die Sicherheit zu nehmen, daß sie das, was sie tun, aus rationalen Erwägungen heraus tun.

In diesem Kontext stehen dann auch die wilde, extreme Liebe von Oskar Kokoschka zu Alma Mahler, Rilkes Kunst, sich die Frauen gefügig zu machen und gleichzeitig vom Leib zu halten und Benns Abschied von Else Lasker-Schüler und der Vaterwelt. Und natürlich merkt man, daß Illies ein profunder Kenner der Kunstgeschichte ist, der Lovis Corinth ebenso auftreten läßt wie Picasso und Marcel Duchamp.

Das Bild, das daraus entsteht, ist das einer künstlerisch überaus potenten Zeit, die ihre Mitte verloren hat. Unterstrichen wird das durch das gelegentliche Auftauchen von Spengler, Musil und Trakl, die das Ende bereits kommen sehen. Doch ist das Bild, das dadurch entsteht, schief. Nicht weil sich Illies nicht mit den Lebensbedingungen der Massen auseinandersetzt (was auch bemängelt wurde), sondern weil er vom Bewußtsein des Künstlers auf das Ganze schließt. Die großen Skandale der Zeit, die Zabern-Affäre und die Enttarnung von Oberst Redl, tauchen zwar auf und auch der Kaiser wird einige Male (in wenig schmeichelhafter Weise) erwähnt. Doch all das soll die Grundthese der Brüchigkeit der Zeit nur unterstreichen.

Was dabei aus dem Blick gerät, ist, daß der Erste Weltkrieg nicht das Ergebnis von Neurasthenie und Lebensüberdruß war, sondern daß dieser Krieg mit dem Ziel entfesselt wurde, Deutschland und damit diese ganze Welt des Geistes zu zerstören. Nicht Dekadenz und unglückliche Liebe standen 1913 im Vordergrund, sondern Vorbereitung auf den Krieg, den Deutschland nicht verhindern konnte.

Illies macht hin und wieder Andeutungen in diese Richtung, unterschätzt dabei jedoch, mit welcher Konsequenz die Einkreisung Deutschlands vorangetrieben wurde und wie ruhig sich Deutschland angesichts dessen verhielt. Die Realität des Kaiserreichs ist damit nur Fassade für all die künstlerischen Beziehungsgeflechte.

Doch war es nicht viel eher die heile Welt, die damals unterging? Die Welt, in der Kunst nicht politisch sein mußte, in der man ohne Paß durch Europa reisen konnte und in der es noch keine Verteufelung des Feindes gab? Bot dieses Jahr für Deutschland nicht die besten Aussichten?

Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts. S. Fischer, Frankfurt/Main 2012, gebunden, 320 Seiten, 19,99 Euro

Foto: Fotopostkarte Berlin, Bahnhof Friedrichstraße (um 1913): Die Frage, was wäre, wenn Hitler es beim Malen belassen hätte, stellt sich nicht

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