© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/13 / 01. Februar 2013

Preußens Freiheitswunder nach der Elendszeit
Der Startschuß fiel in Ostpreußen: Blanke Not trieb 1813 zum Krieg gegen die französische Knechtschaft unter Napoleon
Tino Hermann

Um Königsberg machte Kaiser Wilhelm II. gern einen Bogen. Lieber fuhr er direkt in die Elchreviere am Kurischen Haff oder allherbstlich ins Jagdschloß nach Rominten. Am 5. Februar 1913 aber durfte nicht gekniffen werden, wie sonst so oft zu Feierlichkeiten in der alten Hochburg des preußischen Liberalismus. Am 5. Februar 1913 war der Landesherr höchstselbst gefragt, weil am Pregel der Startschuß fiel zum Reigen der Festakte, die im ganzen Deutschen Reich zur 100. Wiederkehr des „Befreiungsjahrs“ 1813 inszeniert wurden, und die in der Einweihung des Leipziger Völkerschlachtdenkmals gipfelten.

Nicht nur für Adel und höhere Beamtenschaft, auch für das Bürgertum Ostpreußens war der 5. Februar 1813 ein Datum, das gerade in ihrem kollektiven Gedächtnis neben „Kaisers Geburtstag“ und dem Reichsgründungstag am 18. Januar auf gleicher Stufe stand. An diesem Tag hatte General Ludwig Graf Yorck von Wartenburg, der am 30. Dezember 1812 mit der Konvention von Tauroggen (JF 52/12) als Verbündeter Napoleons aus dessen Krieg gegen Rußland eigenmächtig „ausgestiegen“ war, die ostpreußischen Stände zur Verteidigung des Vaterlandes aufgerufen und Vorschläge zur Volksbewaffnung unterbreitet. Bei Johann Gustav Droysen ist nachzulesen, wie der ungehorsame General unter dem Jubel der Versammlung schloß: „Ich hoffe, die Franzosen zu schlagen, wo ich sie finde; ich rechne dabei auf die kräftige Teilnahme aller; ist die Übermacht zu groß, nun, so werden wir ruhmvoll zu sterben wissen.“

Yorcks Vorschläge einer Landwehrordnung, die sich mit Plänen des Grafen Alexander zu Dohna-Schlobitten deckten, erhielten am 7. Februar die Zustimmung der von Dohna dirigierten ständischen Vollversammlung, die für die Errichtung einer 20.000 Mann starken Landwehr den Weg öffnete. Was er in Tauroggen begonnen hatte, führte Yorck am 5. Februar 1813 mit Konsequenz zu Ende: einen ungeheuerlichen Akt der Rebellion. Und die Elite der Provinz schloß sich dieser allen altpreußischen Vorstellungen widersprechenden Insurrektion an, „der Selbstbewaffnung ohne Befehl des Königs, dem Entschluß zur Kriegführung“ gegen Napoleon, mit dem Preußen „noch immer in einem Allianzverhältnis stand“ (Erich Botzenhart).

Im Jahr 1888 hielt der Historienmaler Otto Brausewetter, Zögling der Königsberger Kunstakademie und Nachfahr eines Freiheitskämpfers von 1813, die denkwürdige Szene, Yorck inmitten der ostpreußischen Granden, im Kolossalgemälde fest. Die mitreißende Dynamik des Geschehens, die dem Betrachter die Unüberwindlichkeit geeinten Volkswillens vermitteln sollte, war auch 1913 die zentrale kaiserliche Botschaft an seine Königsberger Zuhörer.

Die Lehre, die Wilhelm II. aus den Befreiungskriegen zog, beschwor die Einigkeit in der Treue zum Monarchen als Basis eines Pflichtgefühls, das auch der Tod für das Vaterland nicht schreckte. Tatsächlich schien diese erinnerungspolitische Strategie für Ostpreußen ins Schwarze zu treffen. Vitaler Stolz auf Pflichterfüllung und Opferwillen, gepaart mit dynastischem Staatsbewußtsein, bestimmte an der Grenze zu Rußland das Lebensgefühl.

Davon zeugte eine am 5. Februar des letzten Vorkriegsjahres eröffnete Königsberger Ausstellung mit 2.000 pietätvoll gehüteten Überbleibseln aus den Jahren von 1807 bis 1815. Darunter Eiserne Kreuze, Denkmünzen, Landwehrsäbel, Pokale und Tabakdosen, die die Enkel der Eigentümer als Leihgaben zur Verfügung gestellt hatten. So etwa den Degen, den „Frau Buchdruckereibesitzerin Klutke aus Stallupönen“ einlieferte, aus dem Besitz ihres Großvaters, der die Feldzüge 1813/14 als Premierleutnant überstand. An diese ganz alltägliche, handliche Präsenz großer Vergangenheit, an ihre identitätsstiftende Macht, knüpften die „Eintracht“ beschwörenden Reden von 1913 im Ursprungsland der Freiheitskriege mühelos an.

Trotzdem verdeckten die Königsberger Paraden und Galadiners tiefe politische Gegensätze nicht, die sich in Deutungen der Vergangenheit zwischen Preußens Desaster von Jena-Auerstedt und dem Triumph von Waterloo zeigten. Schon Brausewetters Gemälde übertünchte Zwistigkeiten unter den Frondeuren, da nicht viel gefehlt hätte, daß es zwischen dem Freiherrn vom Stein, dem Bevollmächtigten des Zaren, und Yorck Stunden vor dessen Auftritt, zu Tätlichkeiten gekommen wäre.

Die Regierungspräsidenten von Königsberg und Gumbinnen wiederum wollten dem abtrünnigen Yorck zunächst nicht folgen. Der Freiwilligkeit der aufgerufenen Landwehr mußte zudem mit Drohungen nachgeholfen werden, während der im fernen Breslau sitzende König Wochen benötigte, bis er die Königsberger Beschlüsse akzeptierte, Ende Februar ein Bündnis mit den Russen schloß und am 17. März 1813 endlich sein Volk gegen Napoleon mobilisierte.

Auch dann noch zündete die Parole „Gold gab ich für Eisen“ unter Vermögenden seltener. Es kamen, wie die borussische Legende zu erzählen wußte, eben doch nicht „alle“, als der König rief. Der „seelische Zustand“ Preußens sei nun einmal „verheerend“ gewesen, resümierte Gerd Heinrich 1981 und fügte mit einem drastischen Hieb gegen die bundesdeutsche Tristesse hinzu: dieser emotionale Tiefststand lasse „deutlich erkennen, wie eine Staatsbevölkerung langsam verrottet, wenn die vaterländische Ansprache ausbleibt“.

Wenn also das offizielle Geschichtsbild 1913 historische Realitäten idealisierte, welche Kräfte bewirkten dann die „Erhebung“? Gewiß nicht, wie es die alternative liberale Legende wollte, an der deutsche Historiker noch bis zu Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter festhielten, der „Geist“ der Stein-Hardenbergschen Reformen. Übrigens auch nicht die vermeintlich entscheidende „Waffenbrüderschaft“ mit den Russen, die in der DDR als einzig akzeptables „Erbe“ von 1813 galt.

Lange hat es gedauert, bis Historiker des Königs Aufruf vom 17. März 1813 („An Mein Volk“), verfaßt vom Ostpreußen Theodor Gottlieb von Hippel, wirklich ernst nahmen. Darin ist nämlich primär von materiellen Belastungen der französischen Besatzung die Rede, die „das Mark des Landes ausgesogen“, den Ackerbau gelähmt, die Quellen des Erwerbs und des Wohlstands verstopft hätten. „Brandenburger, Preußen, Schlesier, Pommern, Litthauer“ erinnerte der Monarch an das „traurige Loos“ siebenjähriger Leidenszeit, um sie zu ermutigen, „große Opfer“ zu bringen und „blutig“ die Unabhängigkeit und Freiheit Preußens zu erkämpfen.

Die starke Resonanz dieses Appells besonders in den von existentieller Not betroffenen Unterschichten hat zuerst Rudolf Ibbeken in den 1930ern sozialhistorisch untermauert und sich dabei von NS-Ideen über die Geschichtsmacht elementarer „völkischer“ Kräfte inspirieren lassen. Von Ibbekens erst 1970 publizierter Arbeit zehren dann die bis heute maßgeblichen Analysen Bernd von Münchow-Pohls zur „Bewußtseinslage in Preußen 1809–1812“ (Göttingen 1987). Entscheidend für die Ausbildung des noch zwischen Preußen und Deutschland schwankenden Nationalgefühls und der militärischen Einsatzbereitschaft sei die gemeinsame Not der „Franzosenzeit“ gewesen, für die meisten Preußen ein Synomym für Ausbeutung, Plünderung, „Mangel aller Art“. Ostpreußen hatte die nach Moskau abziehende Grande Armée 1812 „mit absichtlicher Grausamkeit verheert“ (Ernst Moritz Arndt), die Mark Brandenburg und Pommern nicht minder ruiniert.

Abgesehen von der Heeresreform habe die Kampfkraft der preußischen Armee sich nicht aus dem Geist innerer Reformen gespeist. Die zerlumpten Landwehrsoldaten, so schätzt Münchow-Pohl die Lage realistisch ein, die im strömenden Regen durch die Katzbach wateten, um mit Kolben und Bajonett auf den Feind loszugehen, hätten dabei wohl kaum an Segnungen der Reform gedacht. Stattdessen spreche alles dafür, daß hier Gefühlsregungen die soldatische Masse in Bewegung brachten, wie sie in dieser Intensität bloß eine ausschließlich aus Landeskindern rekrutierte Armee habe entfalten können, nämlich „nackter Haß auf die vormaligen Unterdrücker und so etwas wie nationaler Selbsterhaltungstrieb“. Oder, wie es Friedrich August Ludwig von der Marwitz prosaischer ausgedrückt habe: „Einfach die Rache und die Begierde, fernen Verlust und Not abzuwenden“. Anders sei die Wucht der Erhebung von 1813 nicht zu begreifen.

Foto: Otto Brausewetter, „Ansprache des Generals von Yorck an die Ostpreußischen Stände in Königsberg am 5. Februar 1813“, Öl auf Leinwand 1888: Es gab massive Zwistigkeiten unter den Frondeuren

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