© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/13 / 01. Februar 2013

Mehr als ein Frühstücksdirektor
Peter Merseburgers umfangreiches Porträt des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss
Andreas Graudin

Als sich Theodor Heuss am 12. September 1949 in der Bundesversammlung gegen Kurt Schumacher durchsetzt und zum ersten Bundespräsidenten der noch unsouveränen Bundesrepublik Deutschland gewählt wird, geht Adenauers taktisches Kalkül auf. Nur drei Tage vor der eigenen Kanzlerwahl zwingt er den linken Flügel seiner CDU mit der Entscheidung für Heuss und gegen Schumacher zur Vorabentscheidung für eine bürgerliche Koalition. Gedankenspiele, die erste Bundesregierung aus CDU und SPD zu bilden, sind damit vom Tisch. Der liberale Theodor Heuss ist, ohne es zu wollen, eine Schlüsselfigur. Sein routinierter Biograph Peter Merseburger war Spiegel- Redakteur und ARD-Korrespondent in Ost-Berlin und London. Merseburger macht deutlich, wie sehr schon damals die Wahl eines Bundespräsidenten von parteipolitischem Denken beeinflußt war.

Ein Biograph von Theodor Heuss kommt an dessen Einordnung in die politischen Strömungen des Liberalismus im Kaiserreich und der Weimarer Republik nicht vorbei. Die Darlegung der ungeheuren Bandbreite der Positionen jenes deutschen „Freisinns“ zwischen Pazifismus und Volksheergedanke, zwischen Sozialromantik und Marktwirtschaft, zwischen bündischer Jugend und Freimaurerei gelingt Peter Merseburger vortrefflich. Die seit dem Kaiserreich in Fortschrittspartei und Nationalliberale gespaltenen Liberalen finden auch in Weimar nicht zusammen. Erst 1924 zieht Theodor Heuss in den Reichstag ein, als Geßlers und Rathenaus Deutsche Demokratische Partei (DDP) und die Deutsche Volkspartei (DVP) Stresemanns schon schrumpfende Parteien sind. Heuss bleibt in der nach damaligen Maßstäben linksliberalen DDP in der zweiten Reihe.

Merseburger bringt der Zustimmung zu Hitlers Ermächtigungsgesetz kein Verständnis entgegen, er vermißt hier das moralische Zeichen mindestens einer Stimmenthaltung. Es ist der neuralgische Punkt in Heuss’ politischem Leben, als die in dieser Frage gespaltene, nur noch fünfköpfige liberale Fraktion schließlich geschlossen der Vorlage der Regierung Hitler am 23. März 1933 zustimmt. Einmal abgesehen davon, daß es auf die fünf Stimmen der Liberalen dabei nicht mehr ankam, hätte auch eine Ablehnung des Gesetzes Hitler kaum daran gehindert, das Reich über die Parlamentsmehrheit in eine Diktatur zu verwandeln.

Im übrigen war auch für weite bürgerliche Kreise die Idee einer zeitweiligen Suspension des Parlamentarismus verlockend, der nach Ablauf von vier Jahren nach dem Ermächtigungsgesetz eigentlich planmäßig 1937 hätte wiederhergestellt werden müssen. Zu sehr hatten faktischer Bürgerkrieg, labile Regierungen, Wirtschaftskrisen und nicht zuletzt der permanente äußere Druck der Siegermächte von Versailles die Demokraten demoralisiert. Die liberalen Wähler ebenso wie ihre letzten Abgeordneten. An dieser Stelle läßt Merseburger sein ansonsten durchaus vorhandenes historisches Einfühlungsvermögen im Stich.

Heuss nutzt die politische Zwangspause literarisch für Biographien. Zwar ist das Dritte Reich ein klarer Karriereknick, das Reichstagsmandat und die Professur an der Berliner Hochschule für Politik sind weggefallen. Ein Publikationsverbot besteht aber nicht und so kann 1937 Heuss’ Friedrich-Naumann-Biographie die Zensur passieren. Merseburger erliegt nicht der Versuchung, den Politiker nachträglich zum Widerstandskämpfer hochzuschreiben. Theodor Heuss kannte viele Personen des Widerstands aus den Weimarer Jahren persönlich, so Carl Friedrich Goer-deler, Johannes Popitz, Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer. Sein Einsatz für rassisch und politisch Verfolgte war mutig, von den Verschwörerkreisen hielt er sich indessen fern. Vor dem Bombenkrieg floh er 1943 aus Berlin mit seiner Frau Elly Heuss-Knapp nach Heilbronn, wo der 61jährige das Kriegsende erlebt.

„Kultminister“ in Württemberg-Baden, dem US-besetzten Teil des heutigen Baden-Württemberg, ist sein erstes politisches Amt, in das ihn die Besatzungsmacht beruft, nachdem er im Herbst 1945 zum Lizenzträger der neuen Rhein-Neckar-Zeitung ernannt worden ist. Von dort führt der Weg in den Parlamentarischen Rat. Er ist einer der Väter des Grundgesetzes. Im Unterschied zu folgenden Politikergenerationen sieht er das Bonner Grundgesetz jedoch nicht als letztes Wort der Geschichte, sondern bis zur Einheit und Souveränität des deutschen Volkes als Provisorium und Fragment an. An den Grenzen von 1937 läßt er ebensowenig rütteln wie am Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik für das ganze deutsche Volk. Heuss muß unter den damals gegebenen Umständen als Glücksfall bewertet werden. Seine Integrität, Bildung und joviale Art hat für das Amt Maßstäbe gesetzt und seine Fußstapfen scheinen einigen Nachfolgern in der Gesamtschau viel zu groß.

Wünschenswert wäre gewesen, wenn der Biograph die damals erhebliche außenpolitische Rolle des Amtes hervorgehoben hätte, die heute verschwunden ist. Zunächst gab es noch kein Auswärtiges Amt, und Bundeskanzleramt und Bundespräsidialamt mußten die Außenpolitik der frühen Bundesrepublik provisorisch bestreiten. Eigentlich begann mit Heuss’ ersten Staatsbesuchen ein Neuanfang deutscher Außenpolitik, noch nicht auf Augenhöhe gegenüber den Siegermächten, aber gegenüber den kleineren Nachbarn.

Merseburger hat ein ansprechendes Porträt vorgelegt, man spürt bei ihm den für den Biographen so wichtigen Abstand zur Person, der den objektiven Blick schärft. Gleichwohl wäre es wohltuend gewesen, wenn er etwa auf modisch erscheinende Floskeln wie „Bevölkerung“ statt Volk verzichtet hätte. Heuss selbst und die Väter des Grundgesetzes dachten in Kategorien des Nationalstaats, dessen Träger ein mehr oder weniger homogenes Staatsvolk ist. Ein ebenso geschärfter Blick auch auf die damaligen politischen Realitäten wäre aber vermutlich zuviel verlangt.

Peter Merseburger: Theodor Heuss – Der Bürger als Präsident. Deutsche Verlagsanstalt, München 2012, gebunden, 672 Seiten, Abbildungen, 29,99 Euro

Foto: Offiziere der amerikanischen Besatzungsmacht ernennen den Liberalen Theodor Heuss zum Lizenzträger der neuen „Rhein-Neckar-Zeitung“, Heidelberg am 5. September 1945: Als Glücksfall gewertet

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