© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/13 / 01. Februar 2013

Ein Leben im Tagebuch
Das war noch Disziplin: Seit 1941 täglich alles notiert – 47.596 Seiten sind zusammengekommen
Hinrich Rohbohm

Er hat es bis ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft, ist offiziell Deutschlands fleißigster Tagebuchschreiber. Der ehemalige Studiendirektor Eberhard Lindner, heute 90 Jahre alt. Seit 1930 dokumentierte er sein Leben. Bis er sein akribisch geführtes Hobby 1997 aus gesundheitlichen Gründen aufgeben mußte. 261 Buchbände sind in der Zeit entstanden. Ihr Inhalt: 47.596 handschriftlich geschriebene Seiten und 65.641 Bilder dazu.

„Fast hätte er auch den Weltrekord zuerkannt bekommen“, verrät sein Neffe Ekkehard Jost der JUNGEN FREIHEIT. Wenn nicht Ernest Achey Loftus gewesen wäre. Der einstige Oberstleutnant der britischen Armee hatte sein Tagebuch am 4. Mai 1896 im Alter von zwölf Jahren zu schreiben begonnen und es bis zu seinem Tod am 7. Juli 1987 im Alter von 103 Jahren fortgeführt.

Doch auch ohne Weltrekord ist das Werk des einstigen Biologielehrers beeindruckend. Lindner lebt heute in einem Seniorenheim in Bonn. Mehrere große Schränke füllen dort sein Wohnzimmer. In ihnen stehen ordentlich aufgereiht, durchnumeriert und nach Datum sortiert seine 352 Bände. Ihr Inhalt: das nahezu komplette Leben des Lehrers. Angefangen mit zunächst noch sporadischen Aufzeichnungen zu Lindners Schulbeginn im Jahr 1930. Noch im gleichen Jahr begann er aber bereits mit ausführlicheren Eintragungen. Zwischen 1931 und 1933 hatte er sogar einen Tagebuchband in Griechisch verfaßt. Sein Vater, ein Pfarrer, hatte ihm und seiner Schwester die Schrift bereits früh beigebracht. „Für uns beide dann zur Geheimschrift geworden“, erinnert sich Lindner.

Ab 1941 begann der gebürtige Naumburger schließlich täglich zu schreiben. In seinen Werken aus dieser Zeit befindet sich auch ein Schreiben über eine Wette mit seinem Freund Horst Müller, die den Kriegsoptimismus aus jener Zeit widerspiegelt. „Horst wettet, daß Insel-England noch nicht in diesem Jahr auf irgendeine Art und Weise zu Boden geworfen wird. Eberhard wettet das Gegenteil“, lautet ein Eintrag vom März 1941. Der Wetteinsatz: Eine Reichsmark, fällig am 1. Januar 1942. „Ich hatte aber erst einen Tag später gezahlt“, erinnert sich Lindner und schmunzelt.

Auch bei der zweiten Wette um eine Reichsmark sollte er zahlen müssen. „Eberhard wettet, daß dieser Krieg siegreich für uns ausgeht. Horst wettet das Gegenteil“, ist im Tagebuch vermerkt.

Eine Besonderheit ist Lindners 4. Band, der die Jahre 1943 bis 1945 umfaßt. „Da mußte ich ein Ersatztagebuch anfertigen, weil die Amerikaner es 1945 verbrannt hatten“, erzählt er von den Umständen seiner Gefangennahme. Tausende von eingeklebten Zeitungsausschnitten befinden sich in den Büchern, die für Lindner auch als Grundlage für seine Reiseberichte dienten.

Über seinem Bett hängt eine große Weltkarte. Lindner hat darauf alle Punkte markiert, die er im Laufe seines Lebens besucht hat. Auf allen fünf Kontinenten ist er gewesen, der Besuch jedes Landes ist nach Datum sortiert. Lindner fertigte neben seinen Tagebüchern auch noch Notizbücher für jede Reise an, nahm Dias auf. In Klarsichtmappen verwahrt er rund 15.000 selbst angefertigte Dias. Hinzu kommen 206 Farbtonfilm-Kassetten und 805 Schwarzweiß-Negativrollen.

Um auf den Zehntausenden von Tagebuchseiten den Überblick zu behalten, hat der Studiendirektor im Ruhestand ein Register angelegt. Alle von ihm besuchten deutschen Orte hat er alphabetisch sortiert. Zusätzlich legte er ein nach Ländern sortiertes Auslandsregister, ein Personenregister sowie ein Diaverzeichnis an. Heute hat Lindner eine Sorge: Was wird aus seiner einmaligen Lebensdokumentation, wenn er nicht mehr lebt? Der 90jährige hofft nun auf Interessenten, die sein Werk zu schätzen wissen und bereit wären, diesen Fundus an Informationen aus dem Alltag der jüngeren Geschichte zu übernehmen und zu pflegen, damit diese Ansammlung von Wissen nicht verlorengeht.

Foto: 8. März 1943 Einberufung zur leichten Artillerie, Olmütz: Die Erlebnisse eines ganzen Lebens – in Text und Bild feinsäuberlich festgehalten

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