© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/13 / 01. Februar 2013

Der Flaneur
Rote Rosen schenken
Paul Leonhard

Die Frau hält eine Rose in der Hand. Sie trägt die dunkelrote Blume seltsam starr vor sich. Fast wie eine Standarte. Selbst der Stiel leuchtet kräftig grün. Fast glaubt man, daß selbst die Stacheln leuchten. Zielstrebig, mit durchgedrücktem Rücken schreitet die Frau in raumgreifenden Schritten durch die Bahnhofsvorhalle, in der ich warte. Ihr Alter schätze ich auf Mitte Zwanzig bis Mitte Dreißig. Es ist schwer auszumachen, denn ein weizengelber Hut überschattet ihr Gesicht. Eine seltsame Farbe im Februar. Der Stadtrucksack, den sie trägt, ist dagegen einfarbig.

Neben ihr, aber immer einen halben Schritt zurück, läuft ein Mann. Graues Gesicht, eine Helmut-Schmidt-Mütze auf dem Kopf. Er zieht den Rollkoffer hinter sich her. Ohne Zweifel ist es ihrer. Er hat sie abgeholt. Ist es der Vater, Liebhaber, Mann?

Ich setze mich auf eine der Bänke neben eine junge Frau. Ein wirkliches Fräulein: dicke blonde Zöpfe, grüner Parka, Jeans. Vielleicht 17 Jahre alt. Sie tippt wild auf ihrem iPhone herum. Ich habe noch Zeit, bis mein Zug eintrifft.

Als das Mädchen geht, kommt eine kleine, in einen großen Daunenmantel eingemummelte Asiatin. Tief hat sie die Wollmütze gegen die Kälte ins Gesicht gezogen. Sorgfältig wischt sie mit einem weißen Papiertaschentuch die Bank ab, auf der gerade noch das Fräulein gesessen hat. Dann stellt sie ihre Handtasche dorthin, geht zum viergeteilten Abfallbehälter und studiert die Beschriftung. Wird sie gar noch das Wörterbuch aus dem Mantel zaubern? Nein, jetzt hat sie sich entschieden, in welchen Behälter das zum Bankabwischen benutzte Papiertaschentuch zu versenken ist. Sie kommt zurück, setzt sich neben ihre Tasche und holt belegte Körnerbrötchen heraus, die sie krümelnd vertilgt.

Plötzlich sehe ich eine wunderschöne Frau. Sie kommt genau auf mich zu und fällt mir in die Arme. Es ist meine. Der Zug war überpünktlich. Wir gehen heim. Ich ziehe den Koffer. Und beschließe, beim nächsten Mal eine Rose zu verschenken.

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