© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/13 / 08. Februar 2013

„Das hat etwas von Hetze“
Wochenlang tobte die Debatte um die Reinigung der Kinderbücher von „rassistischen“ Begriffen in den Feuilletons. Der Frühpädagoge Hartmut Kasten gehörte dabei zu den eindringlichsten Warnern vor einer schleichenden Indoktrinierung der Kinder und der Gesellschaft.
Moritz Schwarz

Herr Professor Kasten, sind Sie ein Rassist?

Kasten: Wie kommen Sie darauf?

Sie haben die Praxis der Verlage Oetinger und Thienemann, Worte wie Neger und Eskimo aus den Büchern Astrid Lindgrens und Otfried Preußlers zu streichen, öffentlich kritisiert.

Kasten: Mit Rassismus hat das gar nichts zu tun, eher mit Vernunft, Bürgersinn und dem Respekt vor Literatur.

Konkret?

Kasten: Bei „Pipi Langstrumpf“ und der „Kleinen Hexe“ handelt es sich um Klassiker der Kinderliteratur, es sind sozusagen historische Dokumente. Diese nachträglich zu korrigieren ist absurd und einer freien Gesellschaft nicht würdig.

Wochenlang wogte die Debatte hin und her, dennoch bleiben die Verlage bei ihrer Entscheidung. Sind Sie enttäuscht?

Kasten: Ja, denn ich befürchte, daß sie bleibenden Schaden anrichtet. Unsere Gesellschaft befindet sich zweifellos in einer Phase der Restauration und der Orientierungslosigkeit. Und so ist man froh, das politisch Korrekte als Konsens zu haben, um sich nicht verdächtig zu machen. Man möchte sich auf keinen Fall dem Verdacht aussetzen, zu jenen zu gehören, die vielleicht mit irgendeiner Form von unaufgearbeitetem Rassismus behaftet sein könnten.

Ist das aber nicht berechtigt?

Kasten: Ich habe großen Respekt, wenn jemand, der tatsächlich unter rassistischen Vorurteilen zu leiden hat, für die Streichung des Wortes Neger plädiert. Natürlich werde ich da nachdenklich und nehme das ernst. Aber die meisten Leute, die dieser Ansicht sind, sind nicht persönlich betroffen, sondern haben nur diese Attitüde der Furcht und Anpassung, aus Angst, sich zu exponieren. Und noch eins: Ich bin Entwicklungspsychologe und Frühpädagoge und in erster Linie Anwalt der Kinder. Und die brauchen keine Zensur, sondern engagierte Eltern, Erzieher und Lehrer, die sich die Zeit nehmen, ihnen zu erläutern, wie es kam, daß sich die Bedeutung der Begriffe Neger oder Eskimo im Laufe der Zeit gewandelt hat!

Einige Kommentare haben die Bereinigung der Bücher mit der Arbeit des „Wahrheitsministeriums“ in George Orwells Roman „1984“ verglichen. Ist das zulässig?

Kasten: Ich finde den Vergleich gar nicht so abwegig. Das ständige Nachspüren, ob jemand oder etwas nicht vielleicht „rassistisch“ oder sonstwie verdächtig sein könnte, wenn es oder er sich nicht konform verhält – das hat für mich schon etwas von Hetze.

Der Thienemann-Verlag hat sich allerdings gegen den Verdacht verwahrt, hinter seinen Maßnahmen stünde politische Korrektheit.

Kasten: Das ist eine Feigenblattargumentation. Verständlich, denn wem wäre es als Verlagsleiter nicht peinlich, zuzugeben, daß man sich dem Zeitgeist beugt.

Immerhin hat der Schriftsteller Ernst Jünger etwa seine Bücher in späteren Auflagen zum Teil ganz erheblich umgeschrieben.

Kasten: Das ist durch den Autor selbst geschehen, nicht durch Dritte – ein solcher externer Eingriff sollte tabu sein.

Auch die Gebrüder Grimm haben die von ihnen gesammelten Märchen den sittlichen Vorstellungen ihrer Zeit – heute würde man sagen: politisch korrekt – angepaßt.

Kasten: Auch das ist etwas anderes, weil die Autoren hier mit historischem Material ein eigenes Werk geschaffen und nicht in einem bestehenden Werk herumgepfuscht haben.

Was ist mit der „Bibel in gerechter Sprache“?

Kasten: Egal, was man davon halten mag, aber dabei geht es nicht darum, die Luther-Bibel umzuschreiben, die ja weiterhin gedruckt wird, sondern darum, eine Alternative zu schaffen. Alle Ihre Gegenbeispiele, Herr Schwarz, passen nicht, weil es bei der Bereinigung der Kinderbücher ja nicht darum geht, ein Werk zu erneuern, sondern es anzupassen. Und das halte ich für gefährlich.

Warum?

Kasten: Weil es die gesellschaftliche Tendenz der Angst und Unterwürfigkeit befördert. Es leistet quasi der Erziehung zur Stromlinienförmigkeit Vorschub. Die Kindergeschichten von Astrid Lindgren oder Otfried Preußler sind doch davon geprägt, authentisch und menschlich ehrlich zu sein. Genau dieser Geist wird mit solchen Maßnahmen aber konterkariert.

Werden Kinder zu Rassisten, wenn sie Worte wie Neger oder Eskimo hören?

Kasten: Nein.

Welche Gefahr geht dann von diesen Worten aus?

Kasten: Keine, denn Kinder erwerben ihr Verständnis von den Dingen erst im Austausch mit ihren Bezugspersonen.

Das heißt, wer unterstellt, daß sein Kind beim Hören der Vokabel Neger Rassist werde, unterstellt sich im Grunde selbst, Rassist zu sein, weil er offenbar fürchtet, die dazu notwendige Konnotierung unterschwellig mitzutransportieren?

Kasten: Eben, der Begriff wird erst in der Verwendung zwischen Kind und Eltern mit Bedeutung gefüllt.

Es kommt also vor allem darauf an, wer wie vorliest, nicht, was im Buch steht?

Kasten: Ja, und wenn das Kind den Begriff allein liest, wird es dadurch auch keine rassistischen Assoziationen entwickeln. So eine Vorstellung ist Unsinn.

Warum werden die Begriffe dann gestrichen?

Kasten: Nicht wegen der Kinder, sondern wegen der Erwachsenen.

Es geht gar nicht um die Kinder?

Kasten: Ich glaube, das ist vorgeschoben, dahinter stehen die gesellschaftlichen Ursachen, die ich erläutert habe.

Wenn wir diese Begriffe folglich also nicht streichen – dann müßten wir sie andererseits aber gesellschaftlich rehabilitieren.

Kasten: Warum?

Ein Kind erst an Neger als unschuldigen Begriff zu gewöhnen und ihm dann irgendwann zu sagen: „Ab jetzt ist das Wort aber rassistisch!“ – Ist das nicht schizophren?

Kasten: Das stimmt schon, andererseits zeigen unsere Untersuchungen, daß Kinder ganz gut mit einer solchen Art von Schizophrenie leben können.

Warum das?

Kasten: Weil Kinder sich gut an Verhältnisse, auch widersprüchliche Verhältnisse, anpassen können.

De facto wäre es eine Art umgekehrter Altersfreigabe: Bis sechs Jahre erlaubt, dann verboten. Machen wir uns da nicht lächerlich?

Kasten: Das mag sein. Ich sage ja nur, wir wissen zum Beispiel, daß Kinder bis zum Alter von ungefähr zehn Jahren sowieso zwischen einer offiziellen Vorstellung – etwa die Erde sei rund, wie die Eltern sagen – und ihrer eigenen anschauungsgebundenen Vorstellung – daß die Erde flach sein muß, sonst würde man herunterfallen – unterscheiden. Übertragen heißt das, für die Kinder bleiben Neger und Eskimo die niedlichen kleine Freunde aus ihren Kinderbüchern, während sie gleichzeitig akzeptieren können, daß in der Welt der Erwachsenen andere Regeln gelten und die Erwachsenen das anders sehen.

Es klingt dennoch so, als hätten die Erwachsenen es versäumt, ihre Welt mal nach Maßgabe der Vernunft zu entrümpeln?

Kasten: Das wäre sicher nicht verkehrt.

Dieses Szenario birgt allerdings eine Gefahr: Der Zeitpunkt der Einweihung in dieses Elternwissen ist nicht bei allen Kindern gleich. Einige Kinder werden das Verbot früher praktizieren als andere. Unschöne Szenen, in denen Kinder empört andere des Rassismus anklagen, sind programmiert. Erste Erfahrungen in Denunziation und der eventuell traumatischen Erfahrung, wie es ist, zu Unrecht öffentlich angeprangert zu werden, werden gemacht. Fürchten Sie da nicht negative Konsequenzen?

Kasten: Es stimmt, daß Kinder sogar schon aus weit nichtigeren Gründen andere ausgrenzen, etwa wegen „falscher“ Klamotten, das kann sogar bis zum Mobbing gehen. Das einzige Mittel dagegen ist, daß Eltern ihren Kindern frühzeitig verantwortungsbewußten Umgang beibringen, und idealerweise lernen die Jüngeren von den Älteren. Andererseits gehören solche Auseinandersetzungen auch zum Erwachsenwerden dazu.

Ist denn das Wort Neger überhaupt rassistisch? Die Bedeutung eines Wortes kann ja nicht von meinem Alter abhängig sein.

Kasten: Stimmt, und es wäre schon verwirrend, wenn wir sagen, in einem Buch von 1957 wie „Die kleine Hexe“ ist der Begriff nicht rassistisch, wenn er aber in einem Kinderbuch von 2013 steht, schon. Aber für Ihre Frage bin ich nicht zuständig, die müßten Sie einem Kulturhistoriker oder Etymologen stellen.

In Zukunft werden vergangene Generationen per se für rassistisch gehalten werden, allein weil sich in ihren Schriften Worte wie Neger finden. Steht da nicht die Vergangenheit unter Pauschalverdacht?

Kasten: So wird es wahrscheinlich kommen, das ist natürlich fatal. Allerdings ist das Problem des „Generation Gap“ ja kein neues und kann nur durch gegenseitiges Sich-Austauschen und Aufeinandereingehen überwunden werden.

Warum lassen wir es überhaupt zu, daß ehrenwerte Begriffe plötzlich zu Schimpfworten herabgewürdigt werden, früher zum Beispiel Jude, heute Neger?

Kasten: Da stoßen Sie zum Kern der Sache vor: Denn bevor ein Begriff wie Jude oder Neger öffentlich verbindlich zum Schimpfwort werden kann, ist eine gewaltige Bewußtseinsveränderung notwendig: Die Deutschen im Dritten Reich sind massiv indoktriniert worden, bevor sie allgemein akzeptiert haben, daß Juden etwas angeblich Schlimmes seien. Aber, wenn man so etwas nur oft genug vorgekaut bekommt, dann fängt man an, es jenseits aller Rationalität zu glauben. Gerade das Beispiel des Dritten Reichs sollte uns eine Warnung sein, wie schnell sich eine gebildete, aufgeklärte Kultur völlig einer ideologischen Manipulation ergeben kann. Deshalb sage ich, auch wenn es ja nur wenige Worte sind, die die Verlage ändern: Wehret den Anfängen! Und natürlich sickert dadurch auch Ideologie in unsere Kindergeschichten ein, denn Konfektionierung ist immer Indoktrinierung par excellence.

Sie warnen: „Die Konfektionierung von Kindergeschichten zerstört die Phantasie.“

Kasten: Natürlich, denn hinter diesen Bereinigungen steckt wortwörtlich die Vorstellung einer Reinigung, einer Säuberung, übrig bleibt Sterilität. Kinder aber brauchen zwar Grenzen, aber ebenso Freiheit, Wildwuchs. Wenn man ihnen aber nur konfektionierte Ware anbietet, dann nimmt man ihrer Welt das Urwüchsige und Kreative. Heute werden viele Kindergeschichten um gutgemeinte Absichten, etwa eine multikulturell korrekte Botschaft, herumgeschrieben. Ich bin im Beratungsgremium eines Kinderbuchverlages tätig und liege öfter mit den jungen Leuten dort über Kreuz, wenn diese wieder solch konfektionierter Ware den Vorzug geben wollen. Ich plädiere aber dafür, statt den Kindern ihre Geschichten zu nehmen, ihnen unsere Werte, Toleranz und offenen Umgang mit dem Andersartigen, durch Vorleben zu vermitteln. Sie so zu neugierigen und offenen Menschen zu machen, statt Literatur zu verstümmeln.

 

Prof. Dr. Hartmut Kasten Der Entwicklungspsychologe, Frühpädagoge und Familienforscher lehrte lange am Staatsinstitut für Frühpädagogik des Freistaats Bayern und war außerplanmäßiger Professor am Fachbereich Psychologie und Pädagogik der Universität München. Außerdem ist er durch seine Auftritte in den Medien (Zeit, Focus, Deutschlandfunk, Bayerischer Rundfunk) und als Publizist durch zahlreiche Veröffentlichungen einem breiteren Publikum bekannt, etwa: „Pubertät und Adoleszenz. Wie Kinder heute erwachsen werden“ (Reinhardt, 1999), „Entwicklungspsychologische Grundlagen und frühpädagogische Konsequenzen“ (Cornelsen, 2008), „Entwicklungspsychologische Grundlagen: Null bis drei Jahre“ und „Vier bis sechs Jahre“ (Cornelsen, 2007/2009). Öffentlich kritisierte er: „Schablonenhafte Bücher leisten nicht, was Kinderliteratur ausmacht. Die politische Korrektheit ... grenzt an Zensur.“ www.hartmut-kasten.de

 

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