© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/13 / 08. Februar 2013

Das Leitbild hat nicht gewechselt
Bestandsaufnahme: Vor zwanzig Jahren erschien Botho Strauß’ Essay „Anschwellender Bocksgesang“
Erik Lehnert

Konservative Kulturkritik steht nicht erst in Zeiten des „Kampfes gegen Rechts“ vor einem Dilemma: Sie liefert regelmäßig zutreffende Analysen und Prognosen, ohne daß sie daraus einen Einfluß auf die Ereignisse ableiten kann. Im Gegenteil: Die Kulturkritik wird dafür entweder als ewiggestrig verlacht oder als etwas denunziert, mit dem sie ganz sicher nichts zu tun hat, das, was landläufig als Faschismus bezeichnet wird (und Antisemitismus und Gewalt mit einschließt).

Exemplarisch für dieses Mißverhältnis und seine Ursachen ist der legendäre Essay „Anschwellender Bocksgesang“ von Botho Strauß, der vor zwanzig Jahren erschien. Sein Autor war dem oberflächlichen Leser bis dahin vor allem als Theaterautor der zwischenmenschlichen Probleme und existentiellen Fragen aufgefallen. Natürlich wußte man, daß Strauß mit seinen Stücken überaus erfolgreich und mit dem Büchnerpreis bedacht worden war.

Die Entwicklung hat ihm recht gegeben

So ist es wenig verwunderlich, daß der Aufschrei über den Essay groß war. Zumal noch hinzukam, daß der Artikel nicht an verborgener Stelle erschien, sondern im damals noch führenden, „im Zweifel linken“ (Augstein) Wochenmagazin Der Spiegel. Der Text hatte es in sich und paßte so gar nicht zum abgeklärten, leicht überheblichen Ton, den der Spiegel sonst pflegte. In das zum damaligen Zeitpunkt vorliegenden Werk Strauß‘ fügt er sich in der Rückschau um so besser ein. Wer seinen Roman „Der junge Mann“ (1984) oder sein Gedicht „Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war“ (1985) gelesen hatte, konnte so überrascht nicht sein.

Der Text hebt mit dem Eingeständnis an, als Dichter zu schreiben und nicht als jemand, der das fragile Gebilde der Gesellschaft seinen eigenen Ideen unterwerfen will. Aber gerade aus dieser Position gewinnt Strauß den Mut, rückhaltlos zu sprechen: Der Erfolg und der Wohlstand eines Systems verhindere nicht, daß es untergeht. Strauß sieht darin die Ursache für die heraufziehenden Konflikte, die sich zwischen den „Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens“ entzünden werden. Westeuropa leide an seiner „liberal-libertären Selbstbezogenheit“, habe „sittlich über seine Verhältnisse gelebt“ und sich letztlich von den Konflikten freigekauft. Wobei Strauß schon damals die Möglichkeit sieht, daß sie nur „auf unsere Kinder verschleppt“ sein könnten.

So wie ihm die Entwicklung hier ganz konkret recht gegeben hat, so wird man ihm auch in der Diagnose zustimmen müssen, wenn er eine „Hypokrisie der öffentlichen Moral“ feststellt, die die Autoritäten verhöhnt und den Selbsthaß als intellektuelles Leitbild etabliert habe. Man nenne sich links und verfalle dem „Aufklärungshochmut“ der Machbarkeit. Dagegen: „Rechts zu sein, nicht aus billiger Überzeugung, aus gemeinen Absichten, sondern von ganzem Wesen, das ist, die Übermacht einer Erinnerung zu erleben, die den Menschen ergreift, weniger den Staatsbürger, die ihn vereinsamt und erschüttert inmitten der modernen, aufgeklärten Verhältnisse, in denen er sein gewöhnliches Leben führt.“

Diese Worte sind als Programm verstanden worden und daher entweder entschieden bekämpft oder stürmisch gefeiert worden. Doch Strauß schreibt als Künstler, als ein Außenseiter, der die Sezession vom Mainstream beschwört: „Was sich stärken muß, ist das Gesonderte.“

Damit ist ganz sicher kein politisches Programm gemeint, sondern eine Erinnerung an das, was wesentlich ist. Deshalb spricht der Text (klassisch kulturkritisch) gegen Medien, Gerede, Zersplitterung, Gesellschaft, Schlauheit, Üppigkeit und für Maß, Konzentration, Intimsphäre, Demut, Entbehrung. Er hat seinen Kern in der Klage über die „Totalherrschaft der Gegenwart“, die das Transzendente und das Vergangene eliminieren möchte. Der Mensch wird damit um das Verständnis der Tragödie (nichts anderes heißt Bocksgesang) seiner Existenz gebracht, der er doch nicht entkommen kann.

Befürchtung eines neuen Nationalismus

Der Text bot damit genügend Anstöße für eine Debatte, auch wenn er im Sinne des stillen Nachdenkens geschrieben war. Letztendlich lag in ihm eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, die im medialen Diskurs enden mußte. Daß es dabei zu so viel Unverständnis und Ablehnung kam, hat vor allem mit der damaligen Situation zu tun. Die Wende in der DDR und die Überwindung der Teilung ließen beim linksliberalen Establishment der Republik die Befürchtung eines neuen Nationalismus aufkommen. Erschwerend hinzu kam, daß Ereignisse wie die von Rostock-Lichtenhagen eben diese Befürchtungen zu bestätigen schienen.

In dieser Situation nützte es Strauß auch nichts, daß er sich in dem Text in überdeutlicher Weise von all dem, was unter „Neonazismus“ subsumiert wurde, distanziert hatte und den Deutschen eine „über das Menschenmaß hinausgehende Schuld“ attestierte und darin das Verhängnis erblickte, das politisches Leben „auf Dauer entstellt“. All das wurde nicht thematisiert und stillschweigend als Feigenblatt abgetan, mit dem Strauß von seinem eigentlichen Anliegen, dem Leitbildwechsel, ablenken wollte. Peter Glotz prägte dafür die bekannten Worte: „Notiert euch, Freunde, den Tag (…) Es wird ernst.“

Den Gipfel bildete die Publikation des Essays in dem von Heimo Schwilk und Ulrich Schacht herausgegebenen Sammelband „Die selbstbewußte Nation“ (1994), der nichts anderes unternahm, als die von Strauß angedeuteten Linien auszuziehen. Die Warner sahen sich bestätigt und skandalisierten den Band in ähnlicher Weise wie zuvor den Essay, nicht zuletzt der Spiegel war jetzt unter der Überschrift „Lehrmeister des Hasses“ wieder auf der richtigen Seite. Dem Erfolg tat das keinen Abbruch, in kurzer Zeit erschienen drei Auflagen des Bandes. Doch Strauß hat auch hier recht behalten, wenn er schreibt: „Der Leitbild-Wechsel, der längst fällig wäre, wird niemals stattfinden.“

Er hat nicht stattgefunden, im Gegenteil: Die von Strauß beschriebenen Tendenzen haben sich verstärkt. Der Skandal von Strauß’ Text lag und liegt weiterhin darin, daß er das Wort „rechts“ rehabilitieren wollte und damit Emanzipation, Fortschritt und Demokratie als fragwürdige Heilige darstellte.

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