© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/13 / 15. Februar 2013

„Es widerspricht den Gesetzen der Physik“
Polen: Expertentagung hinterfragt die offiziellen Untersuchungsergebnisse des Absturzes der Präsidentenmaschine bei Smolensk
Christian Rudolf

Bei einem Probeanflug auf den Militärflugplatz im russischen Smolensk stürzte am 10. April 2010 um 10:41 Uhr Ortszeit eine Tupolew-154M in dichtem Nebel im sumpfigen Wald- und Buschgelände vor der Landebahn ab (JF 16/10). Die weiß-rot lackierte Maschine gehörte zur Flotte der polnischen Luftstreitkräfte, an Bord waren der amtierende polnische Präsident Lech Kaczyński, seine Ehefrau sowie eine Delegation hochrangiger Vertreter aus Politik, Kirche und Militär, darunter der höchste Repräsentant Polens bei der Nato. Als Rettungskräfte eintrafen, war keine der 96 Personen an Bord mehr am Leben. Auf einer Strecke von 150 Metern bot sich ein Bild des Grauens: Der Rumpf des Flugzeugs, das aus einer Höhe von nur einigen Dutzend Metern auf die Erde prallte, wurde in Tausende Teilchen zerfetzt, die Körper der allermeisten Opfer zur Unkenntlichkeit verstümmelt, zerstückelt, die Kleider vom Leib gerissen. An einigen Stellen loderten Flammen.

Die nächtliche Bruchlandung einer leer fliegenden Tupolew-204, ihrer Vorgängerin in Größe und Gewicht ganz ähnlich, vor dem Moskauer Flughafen Domodedowo nur knappe drei Wochen zuvor hatten dagegen alle acht Besatzungsmitglieder überlebt. Das einer Boeing 737 vergleichbare Passagierflugzeug kam 1.450 Meter vor der Landebahn zum Stehen, nachdem es im Nebel eine breite Schneise durch den dichten Wald geschlagen hatte. Beim unsanften Aufsetzen zerbrach der Rumpf lediglich in drei große Teile, die Gestalt der Maschine blieb erhalten. Merkwürdig?

Auch nach zwei Untersuchungsberichten über die größte Luftfahrtkatastrophe der polnischen Geschichte – einem vollständig russisch dominierten der zwischenstaatlichen Luftfahrtkommission (MAK) und einem eigenen polnischen der sogenannten Miller-Kommission – scheinen mehr Fragen offen als geklärt.

Eine stetig wachsende Zahl von Polen glaubt, daß die Präsidentendelegation einem Attentat zum Opfer gefallen ist. Die Anhänger der Anschlagstheorie, in der Hauptsache Anhänger der PiS, sehen in Ministerpräsident Donald Tusk den großen Verräter. Er habe in Geheimabsprachen mit Putin die Ermittlungen in russische Hände übergeben und wolle über „Smolensk“ Gras wachsen lassen. Die im Oktober bei von Rußland genehmigten Untersuchungen an den Resten des Wracks entdeckten Sprengstoffspuren (JF 46/12) lassen sich nicht wegdiskutieren, zumal die Generalstaatsanwaltschaft den Fund mittlerweile bestätigen mußte. Trotz polnischem Abschlußbericht (dem sogenannten „Raport Millera“) ermitteln auch polnische Militärstaatsanwälte wieder.

In der betont wissenschaftlich gehaltenen „Smolensk-Debatte“ an der Kardinal-Wyszyński-Universität in Warschau am Dienstag vergangener Woche ging es einmal nicht um Parteipolitik. Vertreter der seit Juli 2010 arbeitenden, aus Abgeordneten der nationalkonservativen Partei PiS bestehenden Parlamentariergruppe zur Untersuchung der Katastrophe sowie PiS-Vorsitzender Jarosław Kaczyński, der Bruder des abgestürzten Staatspräsidenten, nahmen nur als schweigende Zuhörer teil.

Was die von der Gruppe aufgebotenen Experten – deren tatsächliche Qualifikation und Unabhängigkeit nicht hinterfragt wurde – an Ergebnissen ihrer Untersuchungen vorstellten, steht konträr zu den Feststellungen der MAK- und Millerberichte: Weder stellte der in Frage kommende Baumbewuchs ein Hindernis für ein Flugzeug dieser Größe dar – die im Miller-Bericht als unmittelbare Absturzursache angenommene These, eine gleichsam „gepanzerte Birke“ habe der Tu-154M im Niedrigflug bei 270 Stundenkilometern einen Teil des linken Flügels abgeschlagen –, noch habe sich das Flugzeug infolge der Kollision nach links überschlagen. Der aus Sydney per Skype zugeschaltete Ingenieur Grzegorz Szuładziński machte in seinem Vortrag auf die Größe der Wrackteile aufmerksam, welche auffällig weit – über eine Fläche von einem Quadratkilometer – umhergeschleudert wurden: „So kleine Bruchstücke entstehen nur durch eine Explosion.“ Auch fehlten an der Unglücksstelle ein Aufschlagkrater und Schleifspuren. Seiner Ansicht nach sei noch in der Luft als Folge zweier Explosionen der vordere Teil des Rumpfes mitsamt dem Cockpit abgerissen. Das erkläre, warum Teile des Wracks nach der Katastrophe auf dem Rücken lagen, ein Teil aber nicht. Die Birke habe mit dem Absturz rein gar nichts zu tun.

Wacław Berczyński, der als Flugzeugkonstrukteur viele Jahre lang bei Bombardier und Boeing gearbeitet hatte, hob die besonders starken Tragflächen der Tupolew hervor, die innen von drei und nicht nur zwei Trägern durchzogen seien. Durch eine Birke gingen die „wie ein Messer durch die Butter“. „Es ist nicht möglich, daß ein Flugzeug, das aus einer Höhe von 20 Metern fällt, auf eine solche Weise auseinanderspringt. Nicht möglich heißt, es widerspricht den Gesetzen der Physik.“ Er habe sofort den Verdacht gehabt, daß die Umstände andere sein müßten als angegeben.

„Es sind zwei Explosionen, durch die alles klar wird“, faßte Wiesław Binienda von der Universität Akron/Ohio stellvertretend für seine Kollegen gegenüber der JUNGEN FREIHEIT zusammen. „Wir können nicht erklären, was die Ursache dieser Explosionen war, das wissen wir noch nicht, aber die Annahme zweier Explosionen unterschreibe ich – daher ist das unserer Auffassung nach die Richtung, in der wir weiter analysieren sollten.“ In keiner seiner Computersimulationen vom Aufprall des Rumpfs, welche die Annahmen der offiziellen Miller-Kommission nachstellten, zerplatzte die Tu-154M einer Kristallvase gleich wie in Wirklichkeit geschehen. Der Vergleich mit dem Foto eines Teils der Kabine an der Unglücksstelle zeigte, daß die nach außen gerissene Wand nur Folge einer schon während des Fluges erfolgten Detonation an Bord sein könne.

Solange sämtliche Beweismittel noch in russischen Händen liegen, so vor allem die Reste des Wracks, wird es bei Simulationen am Bildschirm bleiben müssen.

Foto: Zerfetzte Trümmer der Maschine TU-154M 101: Alle Beweismittel liegen noch immer in russischer Hand

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen