© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/13 / 15. Februar 2013

Pankraz,
Mirza Schaffy und das tiefe Unglück

Wie betete einst Friedrich Torbergs Tante Jolesch? „Gott schütze uns vor allem, was noch ein Glück ist!“ Wollte sagen: Das Leben wimmelt von Situationen, wo man schlimm auf die Nase fallen kann und gerade noch „Glück hat“, wenn man einigermaßen heil aus der Affäre herauskommt. Das sogenannte Glück ist nichts weiter als eine Folie des Unglücks. Es ummantelt dieses und tritt nur gemeinsam mit ihm auf.

Jetzt hat das auch Wilhelm Schmid gemerkt, Professor für Lebenskunst und Glücklichsein an der Universität Erfurt, dessen Bestseller „Glück“ aus dem Jahre 2007 eine wahre Flut von Nachfolge-Glücksbüchern auslöste. „Unglücklich sein. Eine Ermutigung“ heißt nun Schmids neuestes Opus (Insel Verlag, Frankfurt am Main 2013, 102 Seiten, 8 Euro), das bereits ebenfalls zu Bestsellerehren aufgestiegen ist. Der Erfurter beklagt darin mit ungewollter Komik die „ausufernde Glücksdebatte“ und daß in der Gesellschaft mittlerweile ein regelrechter „Glücksstreß“ ausgebrochen sei.

„Niemand hat die Pflicht zum Glücklichsein“, beruhigt der Glücksforscher seine verstörten Leser. Man dürfe durchaus auch dem Unglücklichsein „Raum geben“. Glück sei nicht das Wichtigste im Leben, wichtiger sei, anständig zu bleiben und sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Schließlich hat schon der kluge, illusionslose französische Moralphilosoph Jean de La Bruyère (1645–1696) festgestellt: „Es gibt für den Menschen nur ein wirkliches Unglück, das ist, sich im Fehler zu befinden und sich etwas vorzuwerfen haben.“

Schön und gut, möchte Pankraz hinzufügen, dergleichen stoischer Lebensmut kann den Unglück Erleidenden vielleicht, wie Schmid suggeriert, „ermutigen“; das Unglück aus der Welt schaffen oder auch nur momentan von sich abwenden kann er aber nicht, da hilft auch die Einteilung in „wirklich“ und „unwirklich“ nicht. Unglück/Glück ist in jedem Fall ein Kind des puren, immer brutalen Zufalls. Irgendwelcher Honig für eine Lebenskunst à la Schmid läßt sich daraus nicht heraussaugen, geschweige denn daß es irgendwelche Tröstungen in petto hält.

Ein Kollege von Schmid, der aserbeidschanische Dichter und Lebenskunst-Philosoph Mirza Säfi Vazeh (1794–1852) hat das schon im 19. Jahrhundert in seinen „Liedern der Klage“ schneidend in Verse gefaßt. Die Kernstrophe lautet (in der Übersetzung von Friedrich Bodenstedt): „Es ist ein Wahn zu glauben, daß / Unglück den Menschen besser macht. / Es hat dies ganz den Sinn, als ob / Der Rost ein scharfes Messer macht. / Der Schmutz die Reinlichkeit befördert. / Der Schlamm ein klar Gewässer macht.“

Man darf das keineswegs als beiläufigen Einspruch eines transkaukasischen Hinterwäldlers abtun. Die „Lieder des Mirza Schaffy“, als die sie Bodenstedt 1851 herausbrachte, waren – nach den sorgfältigen Berechnungen von Ludwig Ammann – einer der größten Erfolge der abendländischen Literatur überhaupt. Sie erlebten allein in Deutschland über 300 Auflagen, und kaum anders war es in England, Frankreich und Rußland. Mirza Schaffy hatte einen Nerv des europäischen Lesepublikums getroffen, das schon damals die Nase gründlich voll hatte von all den „Ermutigungen“ durch eigene Autoren in Sachen Unglück.

Bitterkeit und Zorn über das Unglück gibt es offenbar tatsächlich nur im Orient – oder man muß weit zurückgehen, bis zu den alten Römern. Die neuere europäische Moralliteratur trieft hingegen geradezu vor Eifer, das Unglück zu verkleinern, dem Unglücklichen beizubringen, er solle doch bitte auch die guten Seiten seines Schicksals bedenken, der Lage gelassen ins Auge blicken und kalten Blutes das Beste aus ihr machen. Außerdem gelte es immer auch zu bedenken: „Glück und Glas, wie leicht bricht das!“ Das Glück mache träge und unempfindlich, das Unglück aber wecke die Energien.

Im Götterhimmel der Römer immerhin war die Komplizenschaft zwischen Glück und Unglück, ihr Ineinanderübergehen, noch klar abgebildet. Fortuna, die Göttin des Glücks, war auch die Göttin des Unglücks, und sie war die Göttin der historischen Dummheit, der Niederlage und der Ungerechtigkeit. Sie verwaltete die Lotterie des „Fatums“, des finsteren Schicksals, und streute seine Lose wahllos aus, über Gute wie Böse, Gerechte wie Ungerechte. So war sie auch die Göttin der Wetten und des Glücksspiels.

Ganz in ihrem Sinne dichtete Mirza Schaffy in seinen Klageliedern: „Das größte Unglück ist eine verlorene Schlacht, das zweitgrößte eine gewonnene.“ Sehr altrömisch auch der Vers „Das Unglück kommt zu Pferde / und es verläßt dich zu Fuß“. Fast klingt es wie Tante Jolesch. Das wahre Unglück „widerfährt“ uns, es kommt auf uns zugesprengt wie ein Lanzenreiter, und wir „haben noch einmal Glück“, wenn es uns gelingt, in letzter Sekunde beiseite zu springen. Ist es aber erst einmal da, dann läßt es sich viel Zeit, um wieder abzuhauen, peinigt uns mit Verletzungen, Geldknappheit, Eheproblemen.

Und es bietet – dem Unglücksforscher Schmid sei’s geklagt – wenig Tröstungen. Wenn doch wenigstens die Autoren endlich die Klappe hielten! Schon Pestalozzi, der große Schweizer Pädagoge und Menschenfreund, hat sich darüber bis zur Weißglut aufgeregt. „Man muß das Unglück“, donnerte er in seinem „Zweiten Volksbuch“ („Christoph und Else“ von 1787) „mit Händen und Füßen und nicht mit dem Maul angreifen“. Was aber tun, wenn einem die Hände oder die Füße fehlen und einem nur noch das Maul zur Verfügung steht?

Ein böser, aber typischer „Witz“ aus dem zur Zeit kursierenden Arsenal mit sogenannten Antikapitalisten-Witzen macht den nicht wegschreibbaren Schrecken, der hier nistet, überdeutlich. Der Arzt tritt ans Bett des aus der Narkose erwachten Unfallopfers und sagt: „Wir haben eine schlechte und eine gute Nachricht für Sie. Erstens, leider mußten wir Ihnen beide Beine amputieren, es ließ sich nicht vermeiden. Nun aber zweitens: Draußen wartet schon ein Interessent, der Ihnen ihre schönen Stiefel für einen horrenden Extrapreis abkaufen möchte.“

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