© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/13 / 15. Februar 2013

Birgit Kelle und die zehntausend Fliegen
Wie eine neue Suchmaschine den Erfolg im Netz mißt
Ronald Gläser

Die Nachricht von Hannah Beitzer war überdeutlich. Die nach eigener Aussage eigentlich „twittersüchtige“ SZ-Mitarbeiterin schrieb in dem Kurznachrichtendienst: „Wer mir nochmal diese unsägliche Birgit Keller in die Timeline spült, den entfolge ich. Für immer.“

Entfolgen. Das ist bei Twitter die ultimative Waffe, um jemandem nicht mehr zuhören zu müssen, dessen Meinung einem früher einmal wichtig war.

Kein Zweifel: Der schon legendäre Aufsatz von Birgit Kelle „Dann mach doch die Bluse zu“ hat etwas ins Rollen gebracht. Die 38jährige Kolumnistin hat den Nerv der Zeit getroffen. Ihr Aufsatz, der sich kritisch mit dem von der Stern-Reporterin Laura Himmelreich ausgelösten Diskussion über Sexismus auseinandersetzt, wurde so oft weitergereicht und diskutiert wie kein anderer Beitrag seit langem.

Kelle argumentiert in ihrem Text, daß Rainer Brüderle der falsche Adressat für Sexismusvorwürfe und die ganze Debatte verlogen sei. „Und vor allem möchte ich als Frau nicht in einer Welt leben, in der ich als armseliges Opfer betrachtet werde und Männer vor lauter Angst, etwas Falsches zu sagen, lieber gar nichts mehr sagen“, schreibt sie in ihrer Abrechnung mit der #Aufschrei-Debatte, die in den Tagen zuvor das deutsche Feuilleton dominiert hatte.

Der Text erschien auf den Netzseiten theeuropean.de, kath.net und freiewelt.net. Letztere brachte er zum Zusammenbruch. 250.000 Anfragen waren einfach zuviel für die Rechner der kleinen, liberalkonservativen Internetseite. Die massive Verbreitung erfolgte über die sozialen Netzwerke wie Facebook oder Twitter.

Der Zufall wollte es, daß gerade eine neue Internetseite gestartet worden war, die den Erfolg von Beiträgen mißt, als „Dann mach doch die Bluse zu“ das Internet zu rocken begann: 10000flies.de. Diese Netzseite (zu deutsch: zehntausend Fliegen) registriert, wer wo was angeklickt hat. Im Fall des Kelle-Aufsatzes waren es eine Woche nach Veröffentlichung mehr als 130.000 Klicks, die meisten davon bei Facebook, gefolgt von Twitter und Google+.

Kelles Aufsatz hat gute Chancen, 2013 der meistgeteilte Artikel zu werden. 10000flies meint: „Wie auch immer man zu Birgit Kelles Text steht – er hat so viele Reaktionen in den sozialen Netzwerken provoziert wie kaum ein deutschsprachiger Text zuvor.“ Ein digitaler Mini-Sarrazin.

Hinter der Seite 10000flies steckt der Journalist Jens Schröder, der hauptberuflich bei dem Branchendienst Meedia arbeitet und früher für die deutschen Blogcharts verantwortlich war. Jetzt durchsuchen seine 10.000 Fliegen ähnlich wie Google das Internet, und wieder konzentriert er sich auf Relevanz anhand von Klicks in sozialen Netzwerken, Blogs und auf den Seiten von klassischen Nachrichtenanbietern wie Zeitungen. Kein Wunder also, daß bild.de oder Spiegel Online meistens oben stehen – aber eben nicht immer.

Hinter dieser Messung steckt der uralte Traum von Journalisten und Verlegern, zu wissen, was wirklich relevant ist – und was nicht. Bis vor kurzem investierte ein Verlag in ein Magazin oder eine Zeitung, die sich dann diesen und jenen Themen widmete. Aber nie wußten die Verantwortlichen, was genau die Leser eigentlich dazu bewegt, das Produkt zu kaufen. Welche Artikel werden gelesen? Wo wird weitergeblättert? Das Printgeschäft war eine einzige Blackbox. Selbst in den Zeiten, in denen das Fernsehen schon die Einschaltquoten messen konnte, tappten Zeitungsmacher immer im dunkeln.

Das ist nun durch das Netz vorbei.Immer präziser läßt sich feststellen, welche Beiträge gelesen und gemocht werden – und welche nicht. Der Kelle-Aufsatz war schon nach einem Tag unter den ersten zehn der meistgelesenen Artikel.

Diese kleine Medienrevolution hat natürlich Folgen. Verantwortliche, die an ihrem Erfolg gemessen werden, kommen stärker denn je in Versuchung, vom Zeitgeist abweichende Meinungen zu Wort kommen zu lassen. Natürlich werden nicht alle Dämme der politischen Korrektheit sofort brechen. Aber es besteht Hoffnung, daß die Schweigespirale zum Halten gebracht wird. Auch wenn das einigen Kolleginnen bei den meinungsbildenden Zeitungen dieses Landes nicht gefällt.

10000Flies. Social-Media-News-Charts www.10000flies.de

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