© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/13 / 15. Februar 2013

Europa taugt nicht mehr als Vorbild
Der „Welterklärer“ Peter Scholl-Latour über das autoritäre Regime in China, den „arabischen Frühling“ und den schwindenden Einfluß des „Weißen Mannes“
Heinz Frölich

Peter Scholl-Latour wollte stets Geld verdienen, um Weltreisen zu finanzieren. Kolonialromane, die er als Jugendlicher vor dem Zweiten Weltkrieg las, hätten ihm die Faszination „exotischer“ Kulturen offenbart. Wieder unternimmt der ehemalige Jesuitenschüler, der Charles de Gaulle bewundert, einen politischen Rundgang quer über den Globus. Scholl-Latour veröffentlicht in diesem Buch seine während der letzten vier Jahre geschriebenen Zeitungsartikel. Hinzu kommen Interviews, die er Journalisten gab. „Wirklichkeitsnah“ möchte der Autor analysieren; oft gelingt das hervorragend, manchmal nur in Ansätzen.

„Auflösung“ kennzeichne die heutige Welt. An die Stelle der „Bipolarität“ des Kalten Kriegs traten neue Mächte und religiöse Kämpfe. Scholl-Latour konstatiert den politischen und demographischen Niedergang Europas. In Berlin, Paris und London sei die „akute Phase der globalen Völkerwanderung“ zu besichtigen. Schon lange „vermehrt sich im Abendland nur die zugewanderte Bevölkerung. Das ist heute die Bürde des ‘Weißen Mannes’“. Erleben wir also die Umkehrung des westlichen Kolonialismus?

Der studierte Arabist warnt davor, europäische Normen zu exportieren. Besonders gelte das für den Orient und China. Der „Kasino-Kapitalismus“ und die Schwäche westlicher Parlamente taugen ohnehin nicht zum Vorbild. Im übrigen sei es töricht, China zu mißtrauen, dessen riesiger Markt die deutsche Wirtschaft stärke. Weiterhin benötige China eine autoritäre Führung; nur sie verhindere Zerfall und Bürgerkrieg. Ob Peking deshalb keine Menschenrechte gewähren dürfe, wie Scholl-Latour behauptet, muß nicht jedem einleuchten. Immerhin bietet Japan ein asiatisches Beispiel einer Demokratisierung.

Islamische Länder bevorzugen eigene Wege. In Afghanistan, wo sich deutsche Soldaten verschanzen, gilt die Anwesenheit westlicher Truppen als „Gotteslästerung“. Das Märchen vom „arabischen Frühling“ zerstob wie eine Fata Morgana. In Nordafrika regieren jetzt islamistische Bewegungen gemäß den Vorschriften des Korans. Häufig seien in der arabischen Vergangenheit morbide Regime gestürzt und durch „frische“ Despotien abgelöst worden. Die „dem Abendland unbegreifliche politische Kultur des Islam“ habe der Philosoph Ibn Khaldoun schon vor 600 Jahren erläutert. Der Islam trenne nicht „zwischen der geistlichen und der weltlichen Sphäre. Der Herrscher soll beide Bereiche zur gleichen Zeit“ leiten. Heutige Moslems beabsichtigen, das „Kalifat“ wiederherzustellen. Erdogan entmachtete die türkischen Generäle; am Bosporus gebe es eine „Reislamisierung der Massen“. Ankara erneuere das osmanische Imperium, dem auch Nordafrika unterstand.

Weniger klug urteilt Scholl-Latour, sobald die Reise nach Brüssel geht. Zwar kritisiert er die „unmäßige“ Erweiterung, welche die EU vorgenommen habe, bejaht aber den Euro und glaubt, daß die europäische Einigung gelänge, wenn Deutschland und Frankreich einen „Zusammenschluß der karolingischen Erblande“ realisierten. Hier verläßt ihn der historische Instinkt. Das Reich Karls des Großen gebar die wichtigsten europäischen Nationen. In der abendländischen Geschichte konnten supranationale Vereinigungen jedoch nie dauerhaft etabliert werden. Die Freiheit benötigt unabhängige Länder; große politische Gebilde müssen den inneren Konsens autoritär erzwingen. Trotzdem empfiehlt Scholl-Latour der Europäischen Union, die bundesstaatliche Verfassung der Schweiz einzuführen, obwohl gerade die Eidgenossen sich nicht ohne Grund dem europäischen Staatenbund verweigern.

Peter Scholl-Latour: Die Welt aus den Fugen. Betrachtungen zu den Wirren der Gegenwart. Propyläen Verlag, Berlin 2012, gebunden, 388 Seiten, Abbildungen, 24,99 Euro

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