© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/13 / 22. Februar 2013

„Wir werden mit den Problemen allein gelassen“
Inklusion an Schulen: Lehrer fürchten chaotische Zustände und schweigen aus Furcht, als Behindertenkritiker an den Pranger gestellt zu werden
Hinrich Rohbohm

Irene Müller (Name von der Redaktion geändert) hat ein schlechtes Gewissen. „Wie soll ich dem behinderten Kind gerecht werden?“ fragt sie sich. Die Grundschullehrerin weiß: Eigentlich bräuchte der geistig zurückgebliebene Schüler mehr Hilfe und Aufmerksamkeit. „Aber dann müßte ich mich nur um ihn kümmern und könnte die Klasse nicht unterrichten.“ Sie gibt dem Viertkläßler Rechenaufgaben im Bereich von eins bis 20. Mehr ist nicht drin. „Den Lernstoff der anderen Schüler kann er unmöglich bewerkstelligen.“ Irene Müller unterrichtet seit mehr als 40 Jahren an einer Dorf-Grundschule in Schleswig-Holstein. Demnächst wird sie in Pension gehen. Ihre Kollegen beneidet sie nicht.

„Die Inklusion ist ein großer Etikettenschwindel, da droht das Chaos“, sagt sie. Es fehle an den notwendigen Ressourcen, um Behinderte sinnvoll zu betreuen. Das schleswig-holsteinische Kultusministerium sieht das anders. Inklusion sei mit den vorhandenen Ressourcen möglich, hatte es zum Frust vieler Lehrer verkündet. Doch die Realität sieht anders aus. Nur einmal pro Woche kommt ein Sonderschullehrer in den 2.000-Seelen-Ort von Müllers Grundschule. Er soll die Lehrer beraten, ihnen Tips im Umgang mit behinderten Kindern geben. Gleichzeitig soll er sie unterrichten, Prüfungen mit ihnen durchführen. Pro Schule stehen dem Pädagogen dafür gerade einmal maximal eine Stunde zur Verfügung. „Und das nicht für jedes einzelne, sondern für alle behinderten Kinder an der Schule zusammen“, erklärt Müller die nahezu unmöglich zu bewältigende Aufgabe des Sonderschullehrers. „Wenn der dann Prüfungen durchführen muß, kommt er in manchen Wochen gar nicht“, schildert die Grundschullehrerin die Praxis. Hinzu kämen auf dem Land lange Anfahrtswege sowie krankheitsbedingte Ausfälle, die in der Regel nicht kompensiert werden können.

Damit bleibe die Betreuung der Behinderten praktisch an den Lehrern der Regelschulen hängen. „Aber dafür bin ich überhaupt nicht ausgebildet worden“, sagt Müller. Ihren Kollegen gehe es ähnlich. Auf einer landesweiten Schulleiterkonferenz hätten sich Pädagogen gegenüber den Verantwortlichen im Ministerium beschwert. Ein binnendifferenzierter Unterricht zwischen behinderten und nichtbehinderten Schülern sei unter diesen Bedingungen nicht zu leisten, lautete ihr Vorwurf. „Wenn Sie das nicht können, dann sind Sie keine guten Lehrer“, haben die Pädagogen darauf als Antwort aus der Politik zu hören bekommen. Für Irene Müller war damit klar: „Wir werden mit den absehbaren Problemen allein gelassen.“ Denn seitens der Politik ist die Inklusion parteiübergreifend gewollt. Ein Umstand, der den Wissenschaftsminister Mecklenburg-Vorpommerns, Mathias Brodkorb, zumindest in Bezug auf die Haltung der CDU überrascht.

„Mich wundert daher, daß auch in unserem Bundesland konservative Bildungspolitiker erste, sehr energische Schritte hin zu einem inklusiven Bildungssystem unternommen haben, ohne diese systemsprengende Dynamik zu bemerken. Mit einem gewissen Augenzwinkern könnte man daher die Inklusionsdebatte als ein bildungspolitisches Trojanisches Pferd bezeichnen, das konservative Bildungspolitiker munter und fröhlich selbst hinter die Mauern der herkömmlichen Gymnasien gezogen haben“, sagte der SPD-Politiker auf einem von seinem Ministerium ausgerichteten Inklusionskongreß in Rostock.

In diesem Zusammenhang zitierte er den Erziehungswissenschaftler und Inklusionsbefürworter Hans Wocken, der in seinem Buch „Das Haus der inklusiven Schule“ schreibt: „Inklusion stellt die Systemfrage! Inklusion will das real existierende gegliederte Schulsystem komplett durch eine einzige Schule für alle ersetzen. In einer inklusiven Schullandschaft ist weder für Sonderschulen noch für das Gymnasium ein legitimer Platz vorgesehen. Das ist der hohe Anspruch!“

Ferner führte Brodkorb aus, daß der einst von Karl Marx formulierte Satz: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen“ der Grundidee der Inklusion entspreche. ‚Wenn Sie also nach einer Definition für „Inklusion‘ in Reinform fragen, ist das im Grunde ganz einfach: Inklusion ist Kommunismus für die Schule.“ Der „Kommunismus für die Schule“ wurde 2008 mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch den Bundestag auch für Deutschland bindend. 155 der 193 UN-Mitgliedsstaaten haben die Konvention unterzeichnet, darunter alle 27 EU-Staaten.

Trotz absehbarer Probleme bei der praktischen Umsetzung scheint es fast ausschließlich Inklusionsbefürworter zu geben. Die meisten Kritiker der Inklusionspläne halten sich bedeckt. Zumeist aus Furcht vor dem Vorwurf, man habe etwas gegen Behinderte, würde sie gar diskriminieren. So ergeht es auch Tobias Rohde (Name von der Redaktion geändert), einem Sonderschullehrer aus Hessen. „Unser Schulleiter hat uns klar zu verstehen gegeben, daß wir über das Thema nicht mit Journalisten sprechen sollen“, sagt er. Vor allem unangekündigter Pressebesuch an der Schule sei zu unterbinden. „Die Worte waren natürlich so geschickt gewählt, daß es nicht direkt als Verbot aufzufassen ist“, meint Rohde. Als er einmal im Kollegium die Bemerkung machte, aufgrund der Probleme mit der Inklusion notfalls auch mal die Presse einzuschalten, sei ihm recht deutlich zu verstehen gegeben worden, daß dies nicht gewünscht sei. Rohde ringt mit sich. Ein Gespräch mit der Presse, das fällt ihm nicht leicht. „Ich arbeite dadurch in gewisser Weise gegen meinen Schulleiter“, schildert er seinen Gewissenskonflikt. Das habe für ihn etwas Denunziatorisches, zumal er als beamteter Lehrer in einem öffentlichen Dienst- und Treueverhältnis stehe. Vielen seiner Kollegen gehe es ähnlich. „Wir sind praktisch mundtot gemacht“, meint er. Vielen fehle aber auch einfach nur der Mut zum Widerspruch. Andere würden dagegen den Weg des geringsten Widerstands gehen, „ihr Ding durchziehen“, der Rest sei ihnen egal. „Wenn einer erstmal eine beamtete Lehrerstelle ergattert hat, will er keinen Streß und nichts riskieren. Dann hält er einfach den Mund.“ Er sei eigentlich ein überzeugter Gegner der Inklusion. Sich dazu jedoch öffentlich zu äußern falle auch ihm angesichts eines bereits absehbaren Regierungswechsels bei den nächsten hessischen Landtagswahlen schwer. „Die meisten meiner Kollegen sympathisieren mit der SPD, den Grünen oder der Linkspartei. Wenn ich da zum Widerstand aufrufe, bekomme ich Probleme.“ Rohde will sich noch „beruflich weiterentwickeln“. Und ihm ist klar, daß eine eventuelle Beförderung bei allzuviel Inklusionskritik ausgeschlossen sein dürfte. Dabei gäbe es reichlich Punkte, die zu bemängeln seien. „Die Kinder sollen nun an den Regelschulen unterrichtet werden. Aber gleichzeitig soll es künftig weniger Förderschullehrer geben“, erklärt er. Wenn aber die Inklusion komme, dann bräuchte jede Schule mindestens zwei Förderschullehrer, um die Behinderten fachgerecht betreuen zu können.

„Wir bauen uns hier Probleme auf, die uns ins totale Chaos stürzen“, ist er überzeugt. Schon jetzt blicke kaum noch einer durch angesichts immer neuer Schulreformen. In Nordrhein-Westfalen wurden bereits zwischen 1981 und 1993 Versuche mit gemeinsamem Unterricht in der Sekundarstufe I durchgeführt, bei denen Schüler mit allen Behinderungsarten zusammen mit nichtbehinderten Kindern unterrichtet wurden. Der Versuch soll von allen Beteiligten positiv bewertet worden sein. Auch die Erziehungswissenschaftlerin Annedore Prengel behauptet, daß es möglich sei, „alle SchülerInnen in der ganzen Bandbreite menschlicher Vielfalt von den Schwerstbehinderten bis hin zu den Hochbegabten gemeinsam zu unterrichten.“

Doch wie ist es um die Qualität des Unterrichts bestellt? Für Tobias Rohde ist klar, daß durch die Inklusion das Niveau an den Regelschulen weiter sinken wird. Vor allem bezweifelt er, daß alle Behinderten davon profitieren werden. Gerade für Schüler mit mehrfacher geistiger Schwerstbehinderung werde sich der gemeinsame Unterricht eher negativ auswirken. „Die lernen dann vielleicht, sich schneller die Schuhe zuzubinden, aber sie werden niemals die Quantenphysik verstehen“, verdeutlicht der Sonderschullehrer die Situation aus der Praxis. Ähnliches hatte auch Irene Müller in einem Gespräch mit einer Förderschullehrerin erfahren. „Es geht bei der Umsetzung der Inklusion immer nur um die Quantität und nicht um Qualität“, hatte die Kollegin ihr gegenüber ihren Frust geäußert. Müller hält die Inklusion zwar aus sozialen Gründen durchaus für positiv. „Aber fachlich ist es einfach nicht möglich, dem Kind etwas beizubringen.“ Im Gegenteil: „Das Kind, das am wenigsten kann, muß am meisten lernen.“

„Wir bauen da immer mehr Tabuthemen auf“, ist Tobias Rohde überzeugt. „Wenn Sie nur von ‚normalen Schülern‘ sprechen, kommen doch sofort Leute wie Jutta Ditfurth, die in Gesprächsrunden nur auf so etwas warten, um einem Diskriminierung von Behinderten zu unterstellen.“ Sein Ratschlag: „Wenn einer behindert ist, dann ist er behindert. Es bringt nichts, das zu leugnen.“

 

Inklusion

Inklusion im schulischen Sinne bedeutet, daß behinderte KInder gemeinsam mit Nichtbehinderten unterrichtet werden. Ihre Befürworter wollen eine „Schule für alle“, in der Schwerstbehinderte und Hochbegabte zusammen lernen. Seit dem 26. März 2009 ist die von der Unesco angeschobene UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland rechtskräftig.

Eltern behinderter Kinder haben danach das Recht, ihren Nachwuchs an Regelschulen unterrichten zu lassen. Im Schuljahr 2010/2011 wurde laut Statistischem Bundesamt in Deutschland bei 480.000 Schülern von einem sonderpädagogischen Förderbedarf ausgegangen. 378.000 von ihnen besuchten eine Förderschule (früher Sonderschule), 102.100 wurden inklusiv an allgemeinbildenden Schulen unterrichtet. Im Schuljahr 2010/2011 wurden 79 Prozent von ihnen an Förderschulen unterrichtet, 2000/2001 betrug der entsprechende Anteil noch 88 Prozent (siehe Grafik).

Weil die Inklusion politisch vorgegeben ist, wird der Förderschulanteil weiter zurückgehen. Sowohl der entsprechende Anteil im Schuljahr 2010/2011 als auch die zeitliche Entwicklung war in den Bundesländern unterschiedlich. Aus dem Zehnjahresvergleich ist ersichtlich, daß in den meisten Ländern der Anteil der Schüler, der an Förderschulen unterrichtet wird, zurückgegangen ist; in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Thüringen sogar um mehr als 20 Prozent. Im Saarland lag er unverändert bei 100 Prozent. Angestiegen ist er lediglich in Niedersachsen.

Foto: Inklusion mit Spielpuppen: Die experimentierfreudigen Pläne der Politik drohen an den Realitäten im praktischen Schulalltag zu scheitern

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