© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/13 / 22. Februar 2013

Schuld ist eine Anschauung
Reue, Freiheit und Vergangenheitsbewältigung: Das Drama „Die Fliegen“ von Jean-Paul Sartre am Schauspielhaus Dresden
Uwe Ullrich

Die Morgensonne taucht den Tempeleingang in helles Licht. Heraus tritt Orest (Christian Clauß), um dem Volk von Argos zu verkünden, es sei jetzt frei. Den ersten Stein, der seine Schläfe trifft, merkt er noch. Dann schwinden die Sinne. So kann er nicht mehr wahrnehmen, daß seine Schwester Elektra (Sonja Beißwenger) unter den wütenden Bürgern weilt.

Mit der Premiere von Jean-Paul Sartres „Die Fliegen“ fand erneut die Adaption eines antiken Stoffes den Weg auf die Bühne des Dresdner Schauspielhauses. Pate stand die „Orestie“ des Aischylos. Die erste Regiearbeit des Magdeburgers Andreas Kriegenburg im Haus besticht durch die ausgewogene Leichtigkeit des Spiels trotz der (Gedanken-)Schwere des Stoffes. Das Ensemble um die Hauptakteure Jupiter (Christian Erdmann), Orest und Elektra agiert handlungs- und wortstimmig, um die Verhaltenweisen dem Publikum nahezubringen.

Die Konstellation der ersten überlieferten, zweieinhalb Jahrtausende alten Tragödie handelt um die individuelle Freiheit des Menschen, seine Einsicht zur Reue und die immerwährende Suche zwischen dem Anspruch auf Recht und Gerechtigkeit. Die Inszenierung vermittelt dem Zuschauer den Gedanken, daß Schuld eine Anschauung über die Vergangenheit ist. Wer nur an sie denkt, sich Tag und Nacht damit quält, formatiert ein tagtäglich negatives Gefühl, welches das Handeln, die alternativen Lebensentwürfe für die Zukunft, einengt.

Musikalisch von einem flotten Chanson begleitet, betreten Orest und sein Lehrer (Torsten Ranft) die von schwarzen Mauern (Bühnenbild: Harald Thor) umgebene Stadt Argos. Mittig, mit lebendigem Antlitz, thront Jupiters Konterfei. Klageweiber in schwarzen Kapuzenröcken und weißen Unterkleidern (Kostüme: Barbara Drosihn) beginnen vor dem nahen Totenfest der Stadt ihr Wehen und Wimmern. Schmeißfliegen, Aasfliegen – Fliegen überall.

Orest kehrt in seine Geburtsstadt zurück. Nach dem Mord an seinem Vater Agamemnon war er von der Mutter Klytämnestra (Nele Rosetz) und deren Liebhaber – Mörder seines Vaters – und neuen König Ägist (Benjamin Höppner) ausgesetzt worden und in Athen aufgewachsen. Jetzt fordert er seinen Anspruch auf den Thron ein. Doch er ist nicht so, wie ihn sich seine Schwester Elektra erträumte: kraftstrotzender Held, der mit dem Schwert in der Hand sein Recht einfordert. Orest ist aus weichem Holz geformt, klassisch gebildet und getragen von philosophischen Reflexionen über die Natur und die Eigenschaften der Menschen.

Die Zustände im Herrschaftsbereich widern Orest an. Nachdem er sich Elektra offenbarte, legt er ihr nahe, mit ihm zu fliehen. Brüskiert lehnt sie ab. Sie, von der Mutter zur Sklavin im Palast degradiert, will Rache, blutige Rache. Während des einmal im Jahr stattfindenden Totenfestes, gemimt von maskierten Ensemblemitgliedern und Marionettenpuppen, drängt Elektra den Bruder zur Tat. Er greift zum Messer, tötet Mutter und den Usurpator des Throns. Während sich Elektra in Schuldgefühle verstrickt, denn die Haßgefühle sind gedacht, die Tat Wirklichkeit, kehrt sie reumütig zum Glauben an Jupiter und seine göttlich eingerichtete Ordnung zurück. Orest fühlt sich frei: „Was ich tue ist gerecht!“

Im dritten Akt des Stückes wird gedankenschwer sinniert. Ein Höhepunkt der Inszenierung. Der Bühnenboden ist ausgelegt mit wasserglitzernden Plastebahnen, die Erinnyen rutschen im kindgemäßen Spiel über den Boden, stoßen sich ab, verheddern sich und suchen nach Opfern, die ihnen der Herr, Jupiter, bereitwillig überläßt. Elektra umlauern sie, beißen, schubsen und piesacken die Reumütige, die Schuldbeladene. Aus Wunden blutend, Blut um sich spritzend – Szenen, wie aus dem Leben nachgestellt –, kriecht sie um Vergebung bettelnd, jammernd um Gnade. Überzeugt von seinem göttlichen Walten, argumentiert Jupiter für sein Reich der Vollkommenheit. Im Streitgespräch mit Orest unterliegt er, denn dieser ist sich seiner Freiheit und seines Willens bewußt. Er will kein Schäflein in der Herde sein, sondern: Ich – Orest. So tritt er vor das Tempeltor und empfängt den Unwillen seines freigesprochenen Volkes. Denn es will Knechtung erdulden, Götzendienst leisten und fühlt sich darin wohl.

Sartre schrieb sein Stück während der deutschen Besatzungszeit. Anläßlich einer Inszenierung in Düsseldorf 1947 schrieb der im selben Jahr lizensierte Spiegel: „Es ist gegen jede Macht gerichtet. Sartre wollte seine Franzosen vor der ‘Selbstverleugnung’ warnen und ihnen zeigen, daß sie frei zu entscheiden hätten, sich eine Zukunft als besiegte oder als freie Menschen zu schaffen.“ Damals führte Gustaf Gründgens Regie und spielte die Hauptrolle, den Orest. Der Spiegel urteilte: „Gründgens ließ großes Theater sehen. Das Publikum war zum Teil etwas benommen von Sartres Philosophie, es war sehr beeindruckt von Sartres Dichtung.“

Die Dresdner Premierenbesucher schienen denselben Eindruck gewonnen zu haben.

Die nächsten Vorstellungen im Schauspielhaus Dresden, Theaterstraße 2, finden statt am 27. Februar, 8. und 28. März. Kartentelefon: 03 51 / 49 13–555

www.staatsschauspiel-dresden.de

Foto: Orests Lehrer (Torsten Ranft): Das Volk will Knechtung erdulden, Götzendienst leisten

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen