© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/13 / 22. Februar 2013

Undemokratisch, aber als Korrektiv dienlich
Blick nach links: Der Chemnitzer Politikwissenschaftler Tom Mannewitz beschäftigt sich in seiner Dissertation mit dem europäischen Linksextremismus
Uwe Ullrich

Linksextremisten sind selten Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Den Mißstand zu beheben, nahm sich Tom Mannewitz in seiner Chemnitzer Dissertation vor. In ihr stellt er fest und weist konsequent nach, daß dieser Extremismus aus demselben ideologischen linken Lager kommt und die Grenzen zwischen legalistisch parteipolitisch Orientierten und gewaltbereiter Szene fließend sind. Mannewitz’ Versuch verdient um so mehr Aufmerksamkeit, weil er über Europas mehr oder weniger erfolgreiche Linksextremisten Auskunft gibt. Der Wert der Studie erhöht sich durch die wissenschaftlich bestimmte Gegenüberstellung historisch gewachsener westeuropäischer Parteien und „neuer“ Gründungen in den postkommunistischen Staaten.

Wer ist die Wählerklientel, was sind die Erfolgsbedingungen für erfolgreiche linksextreme Parteien? Mit Hilfe untersuchter Entwicklungen arbeitet der Politikwissenschaftler einige bedeutende Unterscheidungsmerkmale heraus. So kann auf Wählerzuspruch in Westeu-ropa meist hoffen, wer das gesellschaftliche Prekariat zu beeinflussen und sich der eigenen subkulturellen Genossen zu bedienen weiß. Dagegen profitieren die Abtrünnigen der gewandelten früheren Diktaturparteien in Osteuropa von sehr hoher Arbeitslosigkeit, die mit dem latenten Gefühl der Verunsicherung und Statusangst der Bürger einhergeht.

Emotionale Wahlkampfstrategie, charismatische Führungspersönlichkeiten und das Ansprechen der „richtigen“ Zielgruppe sowie der angeschlagene Ton sind Garanten für eine Überlegenheit gegenüber konkurrierenden sozialdemokratischen Parteien oder Rechtsextremisten. Aber es sind nicht nur politische Faktoren, die eine bedeutsame Rolle spielen. Wegen der überkommenen und nie ausgeräumten historischen Bedingungen spalten tiefe Nationalitätenkonflikte, das politisch-kulturelle Erbe des Realsozialismus und die offen zutage tretende Instabilität während der Transformationsprozesse das Wählerinteresse an den Urnen.

Zu bedenken gibt Mannewitz, daß immer noch die direkten und bis 1989 andauernden Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges, die Bedingungen des Wiederaufbaues, fortschreitende europäische Integration, Wertewandel und schließlich die Entwicklung der Globalisierung ins Kalkül zu ziehen sind. Ebenfalls ins parteipolitische Spiel bringt der Autor, daß für den Erfolg von Linksextremisten letztlich eine schwache Stellung der Sozialdemokratie entscheidend ist.

Waren vor Mannewitz’ Ausarbeitung die Einschätzungen über linksextremistische Parteien meist nur auf Vermutungen und Ahnungen gegründet, ersetzt der Autor Fragezeichen durch Aussagen und bereitet den Boden für Vergleiche. Anhand analysierter zeitgeschichtlicher Umwälzungen im postkommunistischen Einzugsbereich – der demokratische Verfassungsstaat und soziale Marktwirtschaft setzten sich gegen Autokratie und Zentralverwaltungswirtschaft durch – hinterfragt er vor allem die gesellschaftlichen Probleme und deren Ursachen. Relativ hohe Arbeitslosigkeit und damit einhergehend die latente Unzufriedenheit mit der Demokratie ermittelte der Politikwissenschaftler als Voraussetzungen für den Erfolg linksextremistischer Formationen.

Interessant ist die Feststellung, daß linksextreme Parteien in Westeuropa dann erfolgreich sind, wenn sie von „starken Rechtsaußenparteien“ und einem „antifaschistischen Wahlkampf“ profitieren können. Da westeuropäische Staaten diese Art des Extremismus kaum als Problem betrachteten, werde sich Europa an Wahlerfolge links- und rechtsextremistischer Parteien gewöhnen müssen. Der beste Demokratieschutz bestehe in aktiver Sozialpolitik und nicht in totaler Ausgrenzung von Extremisten jeglicher Couleur.

Im Notfall sollten nach Meinung des Autors Extremisten an der Regierungsbildung beteiligt werden, um sie zu „entzaubern“. Trotz ihres undemokratischen Charakters stellten diese Parteien ein „Korrektiv“ dar, das verhindere, daß die „gesellschaftliche Schere“ zu weit aufgehe und damit gleichzeitig vitale Interessen der Unterprivilegierten ignoriert würden.

Auch folgende lapidare Einschätzung Mannewitz’ ist zumindest diskussionswürdig: So hält er die Entwicklung, daß ein „parteiförmiger Islamismus in Europa eine demokratiegefährdende Rolle einnehmen könnte, „aufgrund mangelnder Verbreitung des Islams für unwahrscheinlich“. In Städten wie London, Marseille, Duisburg, Antwerpen oder Malmö dürften viele anhand der absehbar kippenden Mehrheitsverhältnisse schon heute diese Behauptung bestreiten.

Tom Mannewitz: Linksextremistische Parteien in Europa nach 1990. Ursachen für Wahlerfolge und -mißerfolge. Nomos Verlag, Baden-Baden 2012, broschiert, 506 Seiten, Abbildungen, 74 Euro

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