© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/13 / 01. März 2013

Grüne Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft
Um Mensch zu sein
Franz Kromka

Rousseaus „edlen Wilden“ hat es zu keiner Zeit und nirgendwo gegeben. Immer schon haben die Menschen ihre natürlichen Bedingungen gefährdet und zum Teil zerstört. Unser Zeitalter unterscheidet sich jedoch von früheren Epochen. Umfang und Stärke der von der modernen Technik ermöglichten Natureingriffe haben heute gewaltige Ausmaße angenommen, und so ist, wenn nicht gegengesteuert wird, mit tiefgreifenden ökologischen Zusammenbrüchen zu rechnen.

Es waren vor allem die Gründerväter unserer Marktwirtschaft, die frühzeitig auf die drohenden Gefahren aufmerksam gemacht haben. Walter Eucken begann sein 1950 verfaßtes Buch über die „Grundsätze der Wirtschaftspolitik“ mit der Feststellung, daß „Industrialisierung und moderne Technik einen einzigartigen Umsturz in der Geschichte bewirkt haben“. Und 1949 vertrat Alfred Müller-Armack die Auffassung, „daß der Mensch im Fortschreiten der Technik eine Grenze überschritten hat, die endgültig die säkularisierten Heilserwartungen der letzten Jahrhunderte zunichte macht und ihn unerbittlich auf die Fraglichkeit seiner Weltposition zurückwirft“. Wilhelm Röpke lehnte 1950 den „geradezu pseudoreligiösen Glauben an die Technik als den Schrittmacher und Gradmesser des Fortschritts“ mit Nachdruck ab.

Die Gründerväter haben einer dezentralistischen, ordoliberalen Gesellschaftsordnung das Wort geredet, die – vor allem in der Produktion – von Maß und Mitte geprägt sein sollte. Röpke hat sich „in keiner Weise von Superorganisation, Zentralisation, Riesenbetrieben, Maschinengiganten, Mammutstädten und titanenhaften Plänen imponieren lassen“. Es irrt, wer glaubt, daß erst die 1980 auf den Plan getretenen „Grünen“ das ökologische Problem erkannt hätten. Vielen „Grünen“ schien und scheint es immer noch weniger um den Schutz der Umwelt zu gehen als vielmehr darum, die Gesellschaft – im Sinne ihres kollektivistisch geprägten 68er-Erbes – umzugestalten.

In den Mittelpunkt ihrer Vorstellungen haben die Marktwirtschaftsväter den dienenden Charakter des Wirtschaftshandelns gestellt. Dieses Handeln sollte nicht mehr, aber auch nicht weniger als die nötigen physischen Voraussetzungen schaffen, um – so Ludwig Erhard – „im transzendenten Sinn Mensch zu sein, um Geist und Seele entfalten zu können“. Eine Wirtschaft aber, die im „Zeitalter der Wucherung wirtschaftlicher Macht“ (Eucken) mehr und mehr zum Selbstzweck gerät, versucht nun nicht nur den Menschen, sondern vor allem auch die Natur zu beherrschen, sie lediglich als Mittel zu benutzen. Daß die Folgen derartiger Beherrschung sehr oft verheerend sind, haben die Väter der Marktwirtschaft klar erkannt.

Gerade weil es den Gründervätern darum ging, an der Gestaltung der Zukunft der von nationalsozialistischem Kollektivismus und Krieg materiell wie ideell schwer geschädigten Welt mitzuwirken, war es ihnen wichtig, den geschichtlichen Wurzeln der Misere nachzugehen. Sie sahen, daß der vornehmlich aus dem 19. Jahrhundert stammende fortschrittswütige szientistische Rationalismus mit seiner Betrachtung der „Gesellschaft als Maschine“ (Röpke) als eine Irrlehre anzusehen ist. Der Abschied vom hybriden Glauben an die Vervollkommnungsfähigkeit menschlichen Tuns hat die Gründerväter nun nicht wie so viele Zeitgenossen zur nihilistischen Weltsicht geführt, sondern dazu, die fundamentale Bedeutung des Verhaftetseins des Menschen in Traditionen und – damit verbunden – der Relativität des Fortschritts, nicht jedoch dessen Verneinung, zu erkennen.

Das Zweifelhafte eines als Selbstzweck betrachteten Fortschritts betrifft vor allem das Dasein des Menschen. Die Marktwirtschaftsgründer haben eine Bilanz des technischen Fortschrittes gezogen – und sind zu einem eher negativen Ergebnis gekommen. Das Mehr an Technik, auch deren Verbesserung, hat das Wohlbefinden der Menschen nicht gesteigert. Alexander Rüstow legte 1957 in seiner „Ortsbestimmung der Gegenwart“ dar, „daß der Mensch als Plus oder Minus nur das empfindet, was von dem ihm Gewohnten und Selbstverständlichen nach oben oder unten abweicht“. In verschiedener Hinsicht fühlten sich die Menschen des Mittelalters vermutlich viel wohler als wir, „denn unsere Verstädterung, unsere Naturferne, die Künstlichkeit und vielfältige Abhängigkeit unserer Lebenslage sind ja doch wohl zweifellos vitale Nachteile und werden von uns auch als solche empfunden“ (Rüstow). Für die vorurteilsfreie Betrachtung der Marktwirtschaftsväter spricht, daß sie hinsichtlich der Medizin zu einem grundlegend anderen Ergebnis kamen. Viele medizinische Fortschritte stuften sie als echte Wohltaten ein.

Die Gründerväter bemühten sich zu klären, wie die soziale Ordnung zu gestalten ist, damit „sie den Menschen das Leben nach ethischen Prinzipien ermöglicht“ (Eucken). Zu diesen Prinzipien zählten sie die Forderung, mit den Gütern dieser Erde in eigenverantwortlicher Weise sorgsam und sparsam umzugehen. Zu diesem Umgang kommt es am ehesten dann, wenn es breit gestreutes Privateigentum an den Produktionsmitteln gibt. Die Abhängigkeit von diesem Eigentum schafft jene Unabhängigkeit und Unbedürftigkeit, die der Wohlfahrtsstaat mit seinem „Ideal der komfortablen Stallfütterung“ (Röpke) obsolet werden läßt.

Wer sein Eigentum nutzen will, benötigt hierfür gewöhnlich technische Mittel. Doch wie und in welchem Maße sich die Menschen dieser Hilfen bedienen, ist nicht durch scheinbar unverrückbar vorgegebene Gesetze und Zwänge bestimmt. Es ist der Mensch selbst, der sie klug und umsichtig als Mittel benutzt oder sie als Selbstzweck betrachtet und mit allen Folgen, wie Röpke schrieb, eine „pseudoreligiöse Anbetung einer autonomen Technik“ betreibt. Der übersteigerte Glaube an den technischen Fortschritt ist mit der hybriden Behauptung verknüpft, „daß das letzte Ziel und der einzige Zweck aller Naturwissenschaft Naturbeherrschung sei“ (Rüstow). Auch in dieser sich ausweitenden Herrschaft über die Natur zeigt sich nach Rüstow „die anthropologische Sollenswidrigkeit des Herrschens“, die sich in der Verwüstung und Zerstörung des natürlichen Lebensraumes äußert.

Natur wie Menschen entkommen den scheinbaren Sachzwängen des „industriell-technischen Apparates, der ein Beherrschungs- und Machtinstrument darstellt, das ältere Zeiten nicht kannten“ (Eucken), jedoch nur dann, wenn die Fortschritte der Technik nicht einfach kritiklos hingenommen werden. Eine abwägende Einstellung setzt jedoch – so Röpke – „die Förderung der individuellen Freiheit und das Selbstbewußtsein des einzelnen Menschen“ voraus. Nach Rüstow macht überhaupt die gewaltige Begeisterung für den technischen Fortschritt, für die ständig steigende Zahl der technischen Erzeugnisse, lediglich aus der Not der Unzufriedenheit eine dünkelhafte Tugend; „denn wer zufrieden, mit sich und der Welt im Gleichgewicht ist, der hat keinerlei Veranlassung, fortzuschreiten – fort von einem Zustand, der ihm angemessen ist und in dem er sich wohl fühlt“. Es ist nur scheinbar paradox, „daß Unzufriedenheit und Unbehagen nur noch mit der Fülle der Güter zu wachsen scheinen, die auf materiellen Genuß berechnet sind, und im umgekehrten Verhältnis zu dem Glück stehen, das man sich von ihnen erwartet“ (Röpke).

Das sich nicht zuletzt auch aus religiös-puritanischen Traditionen speisende rationalistische Wirtschaftsdenken, das nach dem Zweiten Weltkrieg einen ungeheuren Siegeszug erlebte, hat die „alte ehrbare Gesinnung der Nahrung“ (Rüstow) rasch in den Verdacht der Faulheit geraten lassen. Dieses Denken hat wie gesagt im Verein mit dem technokratischen Machbarkeitsglauben zur „heißersehnten Herrschaft über die Natur“ (Rüstow) geführt. Doch die Folgen dieser Herrschaft, der zumeist industriebedingten Eingriffe in das nur zum Teil überschaubare komplexe Gefüge der Natur, erweisen sich häufig als verheerend. Der gewöhnlich nicht berechenbare, sondern nur grob abschätzbare ökologische Schaden übertrifft den berechenbaren materiellen Nutzen viel zu oft und erweist sich nicht selten als irreparabel.

Die Väter unserer Wirtschaftsordnung haben nicht nur auf Fehlentwicklungen hingewiesen, sondern sie haben nachgerade eine „Pathologie der technischen Zivilisation“ (Rüstow) begründet. Es ist ihr Verdienst, auf „die steil ansteigende anthropogene Gefährdung von Gesundheit und Leben des Menschen“ (Rüstow) aufmerksam gemacht zu haben. Aufmerksam gemacht wurde zum Beispiel auf die toxische Gefährdung durch Nahrungsmittel, auf „die verpesteten Flüsse“ und „das Trinkwasser, dessen ausreichende Beschaffung immer größere Schwierigkeiten verursacht“ (Röpke).

Bereits in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ahnte Röpke, daß es das in den Vereinigten Staaten von Amerika längst beobachtbare „unvorstellbare Automobilgekrabbel“ auch hierzulande bald geben werde. Und nicht einmal zwei Jahrzehnte später konnte Röpke feststellen, daß „auch bei uns die Autokolonnen immer dichter und die Schlangen an den Skilifts länger und länger werden und selbst die Berggipfel, die von der Vorsehung als letzte Zufluchtsstätten der Einsamkeit bestimmt scheinen, durch Sesselbahnen in unsere Massenzivilisation einbezogen“ werden.

Kritisiert wurde nicht nur das eintönige „optische Bild“ der technischen Zivilisation, sondern vor allem auch der nur selten abschwellende „Lärm, der von der modernen Massengesellschaft selber aufsteigt und sich schließlich im Geräusch der Düsenflugzeuge und Hubschrauber zur wahren Höllenqual steigert“ (Röpke). Als eine „Totalgefährdung des Lebens“ sahen die Gründerväter, wie etwa Müller-Armack, besonders jene „ungeheuren Mächte der Zerstörung“ an, die „eine bis zum Äußersten gelangte Atomphysik entfesseln kann“. Hierbei könne man nicht zwischen kriegerischer und friedlicher Nutzung der Atomkraft unterscheiden. Wer das tut, macht einen „leichtfertigen Scherz“ (Müller-Armack).

Um von einer Technik loszukommen, die nicht dem Menschen dient, sondern, so Rüstow, „im Dienste des größenwahnsinnigen orgiastisch-ekstatisch rasenden Kults des absoluten Fortschritts um des Fortschritts willen steht“, ist es zuallererst geboten, über eben diese Fehlentwicklung der modernen Technik aufzuklären. Das ist gewiß eine mühselige Aufgabe. Dem „Kult des Kolossalen“ (Röpke), den die Technik ermöglicht, wird bis auf den heutigen Tag gehuldigt und „das Kleine oder Mittlere ist schon als solches minderwertig“ (Rüstow). So müssen die, die sich um die Lösung des Problems bemühen, zuallererst sich selbst und anderen beweisen, daß die schwierige Arbeit überhaupt lohnenswert ist.

Damit es zu einer Kehrtwende kommt, ist, wie Röpke betonte, „stärkster Nachdruck auf Dezentralisierung und Mannigfaltigkeit“ zu legen. Zu einer Versöhnung von Natur und Technik, zu einer „Rückführung aller Dimensionen und Verhältnisse vom Kolossalen auf menschliches Maß“ (Röpke), kommt es am ehesten dann, wenn der Grundsatz der persönlichen Freiheit und das heißt die individuelle Verantwortung hochgehalten wird.

 

Prof. em. Dr. Dr. habil. Franz Kromka, Jahrgang 1944, war von 1988 bis 2009 Professor für Soziologie an der Universität Hohenheim. Er veröffentlichte neun Bücher und weit über 200 Zeitschriftenaufsätze und Buchbeiträge. 2008 erschien sein jüngstes Buch über die „Neuentdeckung der Gründerväter“ (Lichtschlag). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Markt und Moral („Strenge Regeln streng befolgen“, JF 4/10).

Foto: Wider die ungeheuren Mächte der Zerstörung: Der Mensch muß seine Beziehung zur Natur überdenken

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