© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/13 / 01. März 2013

In der Grande Nation verblöden die Schüler
Das öffentliche Bildungssystem in Frankreich steht nach vierzig Jahren linker Reformpolitik vor dem Kollaps
Karlheinz Weissmann

Die Auseinandersetzung um die „Ehe für alle“ und die breiten Proteste der Öffentlichkeit gegen die französische Regierung haben den Blick dafür geschärft, wie anders in vielem die politische Kultur unseres Nachbarlandes auch heute geprägt ist. Das gilt nicht zuletzt für die Bildungspolitik, ein Feld, auf dem es in Frankreich seit Jahrzehnten – von den deutschen Medien kaum kommentiert – ausgesprochen heftige Konflikte gibt. Deren Intensität erklärt sich daraus, daß der Verfall des staatlichen Schul- und Hochschulwesens mittlerweile einen Grad erreicht hat, mit dem verglichen die deutsche Situation fast idyllisch erscheinen kann.

Heute erreichen annähernd neunzig Prozent der französischen Schüler pro forma die Hochschulreife, aber kaum vierzig Prozent beherrschen die Verkehrssprache, nur zehn Prozent der Schulen des Landes halten überhaupt noch so etwas wie ein überdurchschnittliches Niveau. Obwohl der Anteil der Jugendlichen, der den mathematisch-naturwissenschaftlichen Schwerpunkt in der Oberstufe wählt, gering bleibt und sich die überwältigende Mehrheit den sozialwissenschaftlichen oder sprachlichen aussucht, sind diese Schüler mehrheitlich literaturfremd, mindestens außerstande, sinnentnehmend zu lesen im anspruchsvollen Sinn des Wortes.

Obwohl Leistungsfähigkeit, Anstrengungsbereitschaft und Belastbarkeit der Heranwachsenden kontinuierlich sinken und obwohl Vergleichstests immer wieder Defizite zutage fördern, werden die Noten immer besser. Damit korrespondiert die Neigung der politischen Führung, die Bildung der jungen Generation zur zentralen Aufgabe des Staates zu erklären und Statistiken zu veröffentlichen, die den Erfolg ihrer Anstrengungen und die Güte des Schulsystems unter Beweis stellen.

Dabei ist jedem Eingeweihten klar, daß die Daten manipuliert sind und sich die Verantwortlichen nur für die Frage interessieren, ob ihr Image stimmt, das Image in den Medien, im Hinblick auf die tonangebenden – also linken – Kreise und die einflußreichen Lobbygruppen. Wer zu keiner dieser Gruppierungen gehört, trotzdem Interesse an der Bildung seiner Kinder hat und über die entsprechenden Mittel verfügt, ist längst in den Privatschulsektor ausgewichen, der in Frankreich traditionell einen ganz anderen Stellenwert hat als in Deutschland. Im übrigen herrscht stillschweigender Konsens, daß unwichtig ist, ob die Entscheidungen der Bildungspolitik sachgerecht sind, pädagogischen Mindeststandards genügen oder den Lehrern sinnvoll erscheinen.

Tatsächlich sind ausgerechnet die Lehrer das schwächste Element in diesem System. Abgesehen von dem Druck, den die Schulleitung und die Bürokratie auf sie ausüben, etwa um schlechte Beurteilungen zu verhindern, abgesehen von der ganzen Absurdität des pädagogischen „Neusprechs“, dem sie folgen müssen, und „der Kultur der Entschuldigung“, die jede Fehlleistung und jedes Fehlverhalten eines Zöglings irgendwie rechtfertigt und eine (wirksame) Bestrafung verhindert, abgesehen von alledem, sehen sich Lehrer noch der wachsenden Aggressivität von Schülern und Eltern konfrontiert.

Die der Schüler trifft sie nur mittelbar, insofern sie deren Respektlosigkeit ertragen und den Mißständen tatenlos zusehen müssen. Denn die Gewalttätigkeit der Schüler wirkt sich in erster Linie gegen die Einrichtung der Schulgebäude und gegen Mitschüler aus; auf eintausend Jugendliche kommen etwa zwölf schwere Gewalttaten pro Jahr, das sind mehr als 82.000 Fälle insgesamt. Wichtig sind aber zwei zusätzliche Feststellungen: erstens, daß sich mehr als die Hälfte der Gewaltakte an gerade einem Zehntel der Schulen abspielt, und zweitens, daß viele Übergriffe einen rassistischen – das heißt gegen Weiße gerichteten – Charakter haben.

Das Problem, das die große Zahl von Schülern aus Einwandererfamilien darstellt, ist selbstverständlich tabu, und das heißt kein Thema in den Diskussionen zur französischen Bildungskrise. Die heiligen Kühe „Vielfalt“ und „Integration“ dürfen nicht geschlachtet werden. Nirgends finden sich wirkungsvolle Maßnahmen, um gegen den Rückzug in ethnische Parallelgesellschaften vorzugehen, bestenfalls wird versucht, die Konflikte als „soziale“ umzudefinieren und mehr Geld oder mehr Sicherheitsmaßnahmen zu verlangen.

Das Spektrum reicht längst von Überwachungskameras bis zu Metalldetektoren, die am Eingang von Schulen feststellen, wer Messer, Macheten, Rohre, lanzenartige Klingen oder Schußwaffen mitbringt, die aber ungeeignet sind, chemische Substanzen, Gifte zum Beispiel, aus dem Verkehr zu ziehen. Es finden sich auch Polizeiposten auf dem Schulgelände, und in einem Fall hatte ein Schulleiter den Einsatz des Militärs verlangt, nachdem Schüler infolge der Drogenkriege vor seiner Haustür durch Schüsse verletzt worden waren.

Wenn die Aggressivität der Schüler sich vor allem gegen ihre Mitschüler richtet, gilt dasselbe nicht für die Eltern, die seltener zwar, aber doch in einer signifikanten Zahl von Fällen Lehrer attackieren. Offizielle Zahlen gibt es nicht, aber bekannt wurde, daß jeder achte Schulleiter in Frankreich zum Opfer schwerer Beleidigungen wird, jeder siebente zum Opfer körperlicher Gewalt, immerhin jeder zwanzigste mehrfach. Die Situation der Lehrer hat sich in vielen Fällen so weit zugespitzt, daß die Zahl der dauerhaft physisch oder psychisch Erkrankten in den Kollegien ein absurdes Ausmaß annimmt.

Gravierender als die unmittelbare Bedrohung wirkt sich langfristig die Demontage der Stellung des Lehrers aus. Es geht hier auch um die verbreitete Geringschätzung des ganzen Berufsstandes, stärker aber um die Neigung der Administration, Lehrer als Blitzableiter zu mißbrauchen, wenn es sich darum handelt, den Zorn von Eltern oder Schülern oder der sogenannten „Öffentlichkeit“ umzulenken. Egal, welche Art von Konfliktfall: Immer muß sich der Lehrer verantworten, immer ist er in der Erklärungspflicht, immer geht er Risiken ein, wenn er seine Verantwortung wahrnimmt, aber gegen die ungeschriebenen Regeln politisch-pädagogischer Korrektheit verstößt.

So wurde unlängst ein Lehrer diszipliniert, der im Biologieunterricht einen Film über die Folgen der Abtreibung gezeigt hatte. Er mußte sich eine Verletzung seiner weltanschaulichen Neutralitätspflicht vorwerfen lassen, obwohl er auch Abtreibungsbefürworter zu Wort kommen ließ; demselben Schicksal entging nur mit knapper Not eine Lehrerin, die intensiv die Judenverfolgung in der NS-Zeit behandelte, nachdem sich moslemische Verbände gegen ihre „Einseitigkeit“ zur Wehr setzten. Rückendeckung hat kein Lehrer zu erwarten. Ganz im Gegenteil. In der Bildungsverwaltung treibt man „Politik“, das heißt, dort verhält man sich opportunistisch.

Die erste Konsequenz der Lehrer ist Resignation. Niemand begehrt mehr auf, wenn man ihn zwingt, Fehler zu übersehen, Ergebnisse von Klassenarbeiten zu schönen, wenn sich irgendwelche Interessenverbände an den Schulen breitmachen und ideologischen Druck aufbauen, also neben dem seit langem üblichen Kult um die „Verdammten dieser Erde“ in der Dritten Welt und der Menschenrechtsrhetorik jetzt auch noch darangehen, die gesamte nationale Überlieferung zu demontieren und eine Vorstellung von diversity durchzusetzen, die immer bizarrere Formen annimmt, jedenfalls dem Anderen einen grundsätzlichen Vorrang gegenüber dem Eigenen einräumt.

Das Spektrum reicht von der For derung, daß einmal pro Woche alle Schüler und Lehrer einer Jahrgangsstufe in weißer Kleidung erscheinen sollen, um zu zeigen, daß Hautfarbe keine Rolle spielt, über die Förderung des US-Botschafters (ausweislich eines Schreibens, das kurzfristig von Wikileaks veröffentlicht wurde) für jede Tendenz, den Einheimischen den Gedanken auszutreiben, sie hätten ein wertvolles kulturelles Erbe zu wahren, bis zu Vorgaben für den Geschichtsunterricht, die alle zentralen Gestalten der eigenen Überlieferung ausblenden oder sie nur noch als „Schuldige“ präsentieren.

Diese Art von Gehirnwäsche setzt sich fort, wenn man festlegt, daß Identitätsbildung qua Literatur- oder Geschichtskenntnis selbstverständlich nur für Migranten ein erstrebenswertes Ziel ist. Und in den Kontext gehört selbstverständlich auch die Bekämpfung von „Islamophobie“ durch die Vermittlung der Erkenntnis, daß es sich um eine „eigenständige“, „brillante“ und „tolerante“ Religionsform handele, genauso wie die Maßnahme, mit deren Hilfe erreicht werden soll, daß drei Viertel der für den Unterricht empfohlenen Jugendbücher das schwere Schicksal von Einwanderern in Europa zum Thema haben. Zusätzlich arbeitet man intensiv daran, den Slang der Ghettos gleichberechtigt mit der Hochsprache zu behandeln und alle möglichen subkulturellen Lebensäußerungen – von Sgrafitti bis zum Rap – in denselben Rang zu heben wie die Werke der europäischen Klassiker in Musik, Bildender Kunst oder Literatur.

Alle diese Tendenzen sind nicht neu. Vieles davon verdankt sich dem Erbe von 1968: die Infragestellung der Autorität, das Laissez-faire, die Zerstörung des Kanons durch Unverbindlichkeit, der kulturelle und nationale Selbsthaß. Neu ist aber die allgemeine Unterstützung für den Zersetzungskurs. Dem Lehrer, der seinen Beruf verantwortungsvoll ausüben will, bleibt nur ein heroischer und letztlich aussichtsloser Widerstand, „innere Kündigung“, das Verlassen des Dienstes oder der Eintritt in den Vorruhestand. Dennoch hat keine andere Berufsgruppe in Frankreich eine derart hohe Selbstmordrate. Und manchmal bleibt es nicht bei einer stillen Verzweiflungstat. Am 13. Oktober 2011 übergoß sich in Béziers eine Mathematiklehrerin vor den Augen ihrer Schüler mit Benzin und zündete sich an. Kurz darauf erlag sie ihren Verletzungen.

Der Fall spielt eine Schlüsselrolle in dem Buch „Je suis une prof réac et fière de l‘être“ – „Ich bin eine reaktionäre Lehrerin und stolz darauf“ von Véronique Bouzou, die zuvor schon einen Band über Gewalttaten gegen und Selbstmorde von Lehrern in Frankreich geschrieben hatte. Madame Bouzou unterrichtet selbst, weiß also wovon sie spricht, und hat den Tod ihrer Kollegin zum Anlaß genommen, um eine Generalabrechnung mit dem Schulsystem ihres Heimatlandes vorzunehmen, die ihresgleichen sucht. Dabei steht sie nicht ganz allein.

Denn Véronique Bouzou gehört zu einer Gruppe von beherzten Lehrern, Eltern und Journalisten, die sich unter der Bezeichnung „SOS Education“ – „SOS Erziehung“ zusammengeschlossen hat und die Öffentlichkeit auf die desolaten Verhältnisse aufmerksam machen will. Wichtig ist dabei, daß sich „SOS Education“ nicht scheut, auf die ideologischen Ursachen des Verfalls hinzuweisen und deutlich macht, daß im Grunde alle Parteien der Vierten und Fünften Republik Mitverantwortung tragen, da sie nur die kurzfristigen Vorteile einer egalitären Bildungspolitik im Blick hatten, aber langfristige Folgen systematisch ausblendeten.

Henri Nivesse, auch er ein Mitglied von SOS Education“, hat in einer Ausgabe der Zeitschrift Krisis (Nr. 38/2012), die ganz dem Thema „Erziehung“ gewidmet war, den Blick auf diese Zusammenhänge gelenkt und auch Bruno Racine zitiert, einen, der das System der Bildungspolitik an entscheidender Stelle mitgestaltet hat, heute als Direktor der Nationalbibliothek fungiert und unlängst erklärte: „Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß sich unser öffentliches Schulsystem auf dem Weg zur totalen Zerstörung befindet. Diese Zerstörung ist das Ergebnis aller politischen Ansätze und aller Reformen aller Regierungen seit dem Ende der sechziger Jahre.“

Schuld am Niedergang sei eine „Nomenklatura“, die von den Schulleitungen über diverse Einflußgruppen bis zur Bildungsbürokratie reiche, von zuständigen Ministerien bis zu den pädagogischen Lehrstühlen, und die eine „Ideologie“ verbinde, deren Kernvorstellung sei, daß die Schule allen möglichen Zwecken dienen solle, nur nicht den traditionellen: dem Vermitteln von Kenntnissen und Fertigkeiten. Angesichts dessen habe diese Nomenklatura heute vor allem das Ziel, „sich ihrer Verantwortung zu entziehen und im übrigen mit allen Mitteln die Realität des Desasters zu kaschieren“. Der Philosoph Alain Finkielkraut schlußfolgerte, daß wir einen in der europäischen Geschichte einmaligen Vorgang erlebten, der den Haß und die Verachtung nicht nur gegenüber dem Lehrer, sondern auch gegenüber dem Wissen durchsetze.

Véronique Bouzou: Je suis une prof réac et fière de l’être. La Boîte à Pandore, Brüssel und Paris 2012, broschiert, 252 Seiten, 18,90 Euro

Foto: Pausenhof der Auguste-Blanqui-Schule im Pariser Banlieue St.-Ouen: Eine Mehrzahl der Schüler ist außerstande, sinnentnehmend zu lesen

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen