© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/13 / 01. März 2013

Haltungsnote
Ein Yankee liest der Grande Nation die Leviten
Markus Brandstetter

Die Franzosen haben den Camembert, das Chanson und die Revolution erfunden. Die Arbeit wohl kaum; schon eher die Freizeit mit Bordeaux, Baguette und Gauloises. Die Amerikaner auf der anderen Seite des großen Teiches arbeiten Tag und Nacht, essen in den Zwischenpausen Burger und sind mit einer Käsesorte, dünnem Bier und kalifornischem Chardonnay vollkommen zufrieden.

Und so hätte das immer weitergehen können, wenn da nicht eine französische Reifenfirma am Ende gewesen wäre. Ein Investor mußte her, und da in Europa keiner zu finden war, wandte man sich an Maurice Taylor, einen besonders taffen amerikanischen Boß. Der liebt Reifenhersteller so sehr, daß er sie kauft, saniert und die überflüssigen Arbeiter an die Luft setzt, was ihm den Kosenamen „Grizzlybär“ eingetragen hat. Trotz seines Vornamens ist dieser Maurice aus französischer Sicht ein übler Bursche: Er verfrühstückt am liebsten Gewerkschafter, zum Mittagessen gönnt er sich Sozialisten und zum Dessert Kommunisten in Erdbeersoße.

Als der Grizzly in Frankreich anlandete, um mit Gewerkschaftern zu verhandeln, wurde seine Geduld derart strapaziert, daß er sich weigerte, den Kramladen zu retten. Der französische Industrieminister Arnaud Montebourg intervenierte persönlich, worauf Taylor ihm brieflich seine Beobachtungen schilderte: „Die französischen Arbeiter bekommen hohe Löhne. Sie haben eine Stunde für ihre Pausen und für ihr Mittagessen, diskutieren drei Stunden lang und arbeiten drei Stunden.“ Er habe dies den Roten von der Gewerkschaft auch ins Gesicht gesagt. Die hätten ihm frech geantwortet: „So ist das in Frankreich!“

Die Franzosen schäumen nun und empfahlen dem Amerikaner alles von Therapie bis Irrenhaus. Doch zeigt deren Zorn nicht, daß in Taylors Beurteilung ein Körnchen Wahrheit steckt?

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