© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/13 / 08. März 2013

Von Möwen und Enten, Wildschweinen und Füchsen
Redakteure und ihre Heimat: Ronald Gläser über Veränderungen und Konstanten in seinem Berlin / JF-Serie, Teil 10
Ronald Gläser

Der Preußische Landtag war 1991 noch eine Bauruine. Bei einem Rundgang durch das zukünftige Parlament des wiedervereinigten Berlins habe ich damals eine Gruppe amerikanischer Austauschschüler aufs Dach des Hauses begleitet, das kurz zuvor noch im Niemandsland zwischen Ost und West gelegen hatte. Gemeinsam schauten wir in beide Richtungen, die östliche und die westliche. Damals waren die Unterschiede noch sofort erkennbar. Zwanzig Jahre später wissen nur noch eingefleischte Berliner, wo genau die Grenze verlaufen ist.

Heute bin ich aus beruflichen Gründen manchmal im Landtag. Jedesmal muß ich daran denken, wie sehr sich die Stadt seitdem verändert hat. Von dem Publizisten Karl Scheffler wissen wir, daß Berlin dazu „verdammt ist, immerzu zu werden und niemals zu sein“. Und nirgendwo war und ist diese Veränderung so zu beobachten wie am Potsdamer Platz oder eben jenem unweit gelegenen Landtagsgebäude.

In der Tiergartenstraße, die vom Potsdamer Platz nach Westen führt, bin ich zur Schule gegangen. Da standen abends früher Prostituierte der untersten Preiskategorie. Inzwischen ist das ein Nobel- und Botschaftsviertel, in dem Eigentumswohnungen für mehrere tausend Euro pro Quadratmeter angeboten werden. Und am Lützowplatz, wo nun das CDU-Hauptquartier ist, war eine Freifläche. Der Eingang zur Parteizentrale steht an der Stelle, wo sich früher eine Würstchenbude befand.

Aber es gibt auch Konstanten. Selbst in einer quirligen Millionenstadt wie Berlin. Das Krahkrah der Möwen und Enten am Tegeler See ist das gleiche. Leider beginnt es im Sommer schon morgens um fünf Uhr. Und am Nachmittag stehen die Verkäufer der Stern- und Kreisschiffahrt unten an den Bootsstegen und preisen ihre Rundfahrten an. „Komm’ Se mit, Heilijensee, komm’ Se mit.“ Das ist nervtötend, aber Anwohner gewöhnen sich daran. Ebenso wie an die zugepflasterte und zubetonierte Greenwichpromenade, die ein wenig an den Atlantikwall erinnert – oder daran, wie er hätte aussehen sollen.

Dort, in Tegel, bin ich früher gepaddelt. Heute mache ich mit Freunden einen Segeltörn, wenn meine Zeit es zuläßt. Allerdings eher auf dem Wannsee als auf dem Tegeler See. Berlin ist ja eine Stadt mit sehr viel Wasser und angeblich mehr Brücken als Venedig.

Und dann gibt es den Tegeler Forst. Dort haben wir früher „Krieg gespielt“ auf dem frei zugänglichen Übungsplatz der französischen Besatzungstruppen. Die gibt es zwar nicht mehr, aber der Wald ist immer noch da. Neulich war ich mit der ganzen Familie da. Mein Ältester hat einen Pilz gefunden, so groß wie eine Pizza. So wie früher laufen einem dort noch immer Wildschweine und Füchse über den Weg. Meine Eltern leben nach wie vor in Tegel.

Ich hingegen bin zwischenzeitlich nach Pankow weitergezogen. Dieser Umzug mit der ganzen Familie war hoffentlich auf absehbare Zeit der letzte. Wir haben lange gesucht. Nicht jede Ecke in Berlin ist in Frage gekommen, aber viele. Der Maler und Wahlberliner Nikolai Makarov hat das unlängst so beschrieben: „Heimat ist für mich da, wo ich bin. Heute ist es der Wedding, morgen vielleicht Friedrichshain.“ So ähnlich geht mir das auch, wenngleich ich andere Stadtteile im Auge habe als der gebürtige Russe.

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