© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/13 / 08. März 2013

Deutschland in Europa
Mitte und Ordnung verloren
Erik Lehnert

Wegen einiger weniger Jahre seiner Geschichte hängt dem deutschen Volk der Ruf an, ein Hort des politischen Extremismus zu sein. Angesichts der Behauptung von unvergleichlichen Verbrechen und anhaltendem Weltmachtstreben ist das eine naheliegende Auffassung, wenngleich es dafür kaum Belege gibt. Diese beschränken sich meist auf die bekannten zwölf Jahre und lassen damit eine tausendjährige Geschichte auf einen auf dem Zeitstrahl kaum wahrnehmbaren Rest zusammenschnurren.

Thomas Mann war ein früher Vertreter dieser Ansicht, die er kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges äußerte: „Der Deutsche, wenn er politisch sein will, glaubt, alle Moral und Menschlichkeit über Bord werfen zu müssen (…) Er glaubt, sich zu diesem Zweck entmenschen zu müssen.“ Wenngleich diese Aussage in der damaligen Situation etwas für sich hatte und daher verständlich erscheint, stellt sich dennoch die Frage, ob sie stimmt. Nicht zuletzt weil Mann lange Zeit eine dezidiert andere Auffassung vertreten hatte. Nicht nur in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918), sondern auch noch in den ersten Jahren der Weimarer Republik, sah Mann in den Deutschen ein „Volk der Mitte“, das den Ausgleich sucht. In diesem „Ja-und-doch-Nein“, das das Nationale bejaht und das Politische und Demokratische verneint, machte er den deutschen Selbstwiderspruch und gleichzeitig die Ursache für die Mittlerposition der Deutschen aus. Nach 1945 stand für Mann dagegen fest: „Dies Volk der ‘Mitte’ ist in Wahrheit ein extremes Volk.“

Nun ist es unwahrscheinlich, daß sich der Charakter eines Volkes in wenigen Jahren so grundlegend ändern kann. Es ist daher naheliegend, daß sich Mann mit einer seiner Auffassungen irrt. Dafür, daß seine frühe Einschätzung richtig war, spricht einiges, auch wenn in der Rede vom „Volk der Mitte“ zunächst nichts genuin Deutsches steckt. Es hat ähnliche Zuschreibungen für andere Völker in anderen Zeiten gegeben. Die frühen Griechen galten Aristoteles als die klimatische Mitte zwischen dem zu warmen Asien und dem zu kalten Europa. China wirbt bis heute mit dem Ausdruck „Reich der Mitte“, um damit eine ähnliche Position zwischen den Kulturen zu beschreiben. Mittlerweile gibt es sogar Bücher, die dem Islam entsprechende Eigenschaften andichten. Wie gelangen die Deutschen in diese Reihe von Mittelvölkern?

Auch wenn Geopolitik heute als obsolet gilt, so wird doch niemand ernsthaft bestreiten können, daß Landschaft und Lage ganz entscheidenden Einfluß auf die Geschichte und Geschicke eines Volkes haben. Deutschland und Österreich bildeten im Ersten Weltkrieg nicht umsonst die Mittelmächte, weil sie in der Mitte Europas liegen. Diese Mittellage war immer Kennzeichen des deutschen Volkes gewesen, das weniger zwischen Nord und Süd als zwischen Ost und West seine Stellung sichern mußte. Das Gefühl der Bedrohtheit von allen Seiten hat die deutsche Politik maßgeblich bestimmt und wurde durch die „Einkreisung“ Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg zusätzlich bestätigt. Die Furcht, einen Zweifrontenkrieg führen zu müssen, saß tief und jede Strategie war darauf aus, genau das zu vermeiden.

Daß sich aus dieser Lage andere Schlüsse ergeben als aus der des russischen Riesenreiches oder der britischen Insel, dürfte einleuchtend sein. Allerdings sollte man nicht den Fehler begehen und daraus einzig ableiten, daß Deutschland wegen dieser Lage besonders kriegerisch geworden sei. Abgesehen von dem ganz natürlichen Bedürfnis, seinen Bestand zu sichern und möglichst abzurunden, hat sich in Deutschland ein Bewußtsein für die Verantwortung, die aus dieser Lage resultiert, entwickelt. Daraus wurde der „ehrliche Makler“, als den Bismarck Deutschland bei internationalen Verhandlungen sah, und schließlich der „Herr der Mitte“, als der Wilhelm II. das Auseinanderstrebende zu integrieren suchte. Selbst im Krieg blieb „Mitteleuropa“ ein Ziel, das sich Friedrich Naumann in seinem gleichnamigen Buch nicht als Imperium unterjochter Völker vorstellte, sondern als einen Zusammenschluß, der aus der Abwägung der Vor- und Nachteile resultieren würde. Das Scheitern war durchaus einkalkuliert.

Mit dem Ersten Weltkrieg war dieser Anspruch, sofern er ein politischer war, beendet beziehungsweise er hatte keine Grundlage mehr, weil es lächerlich ist, in einem Ausgestoßenen den Mittler sehen zu wollen. Die von Thomas Mann 1918 verteidigte Abneigung gegen das Politische und die geistige Schöpferkraft bedingten einander. Daß die Deutschen seitdem nur auf ihr Reich der Innerlichkeit zurückgeworfen waren, führte zu einer Scheinblüte. Aber ihnen fehlt bis heute die Mitte zwischen den beiden Dingen, das Pendel kann nicht schwingen und die Bewegungen sind nicht mehr geschmeidig, sondern unkoordiniert. Dennoch versuchte man sich auch in den zwanziger Jahren an der Position der Mitte, wenn man folgende Sätze von Hugo von Hofmannsthal bedenkt: „Wir sind Deutsche, und unserer Sprache, die ja unser Schicksal ist, ist dies Merkmal gegeben, daß in ihr wie in keiner die geistigen Schöpfungen anderer Völker in ihrer Herrlichkeit wieder auferstehen und ihr eigenstes Wesen offenbaren können, wodurch wir als das Volk der Mitte und der Vermittlung auserlesen und beglaubigt sind.“

Die kulturelle Vermittlung tritt an die Stelle, verbunden mit der Hoffnung, daß sie es wieder vermag, den Deutschen in einer konservativen Revolution ihre Mitte zurückzugeben oder sie neu zu entdecken. Hofmannsthal stand damit nicht weit entfernt von Nietzsche, der allerdings die Gefahren dieser Innerlichkeit, die nicht durch Macht geschützt ist, deutlich sah. Er hatte sich notiert, daß in der deutschen Brust nicht zwei, sondern zwanzig Seelen angepflanzt seien. Diese in Europa einmalige Mischung – Nietzsche spricht auch von der ungeheuren „Blut-Verderbnis der Rasse“ – habe „endlich aus dem Deutschen ein alles verstehendes, alles nachfühlendes und sich aneignendes Volk der Mitte, der Vermittlung gemacht – eine Ferment-Rasse, bei der nunmehr ‘kein Ding unmöglich ist’“ – im Guten wie im Schlechten.

Daß diese Vorstellung eines Vermittlungsauftrags erhalten blieb, dafür gibt es noch andere Zeugen. Hans Rothfels sprach 1932 von den Deutschen als „Volk der Mitte“, das allein den Völkern im Osten den Ordnungsrahmen, ohne Rücksicht auf Nationalitätenfragen, bieten könne. Und in Robert Musils Roman „Mann ohne Eigenschaften“ stammt die Figur Paul Arnheim, für den Walther Rathenau das Vorbild abgab, als Preuße „aus dem Volk der Mitte, wo alle Motive der Welt sich kreuzen“. Das machte bis dahin auch das Faszinosum für den Rest der Welt aus, daß die Deutschen als Volk der Mitte „unfaßbarer, umfänglicher, widerspruchsvoller, unbekannter, unberechenbarer, überraschender, selbst erschrecklicher, als es andere Völker selbst sind“ (Nietzsche) und damit der Definition „entschlüpfen“.

Mittlerweile gilt es als unstatthaft, bestimmten Völkern bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, und seien es die der Widersprüchlichkeit oder die der Mitte. Doch hat Deutschland diese Mitte wirklich verlassen? Es ist offensichtlich, daß die Deutschen vom Rest der Welt als ein Verbrechervolk betrachtet werden, das zwar zweifellos in den Sekundärtugenden sehr stark sei, aber doch immer noch so gefährlich ist, daß man ihm gehörig auf die Finger schauen müsse. Nicht zuletzt die Einführung des Euro stand in diesem Kontext. Dagegen dürfte sich das Selbstbild der Deutschen völlig anders darstellen. Sie sind zerknirscht, beschäftigen sich allenthalben mit ihrer unseligen Vergangenheit und zucken da zurück, wo sich die Möglichkeit böte, Macht und Einfluß zu erlangen. Von einem Volk der Mitte ist da in der Tat nicht mehr viel zu spüren. Doch die Wahrheit über das deutsche Wesen liegt ja irgendwo in der Mitte dieser extremen Positionen. Es ist eben beides, so hat es der vergessene Philosoph Walter Hueck (mit Hölderlin) ausgedrückt, „der Verlorene Sohn der Welt und zugleich das heilig Herz der Völker!“

Hueck war es auch, der in den zwanziger Jahren eine Polaritätsphilosophie entworfen hat, die eben genau davon ausging, daß weder das Entweder-Oder noch der Kompromiß die Wahrheit erfassen könne. Diese gebe es nur auf dem Wege des „Sowohl-als-auch“. Die Wahrheit wird als eine Polarität, als ein dynamisches Spannungsverhältnis zwischen zwei antithetischen Polen begriffen. Tatsächlich verhält es sich so, daß die Aktivität des Geistes, auch die eines Volkes, nicht aus einem Prinzip oder einem Extrem erwächst, sondern Resultat des Lebens ist und damit von der Spannung zwischen Irrationalem und Rationalem lebt. Mit diesem Blick werden die so divergierenden Auffassungen verständlich und auch, warum die Deutschen immer noch das Volk der Mitte sein können. Es gilt den darin liegenden Anspruch wieder einzulösen. So wie der Historiker Friedrich Meinecke nicht der Auffassung war, daß die Deutschen ein „Weltvolk“ seien, sondern daß sie eins werden sollen, in dem Geist und Macht zum Wohle aller regieren.

Dieser Anspruch wird sich nur schwer erfüllen lassen, nicht zuletzt weil die Mitte in Verruf geraten ist. Dabei ist die omnipräsente politische Mitte, nach der sich alle drängen, das Gegenteil von dem, was Nietzsche meint, wenn er den Menschen von „Maß und Mitte“ als den Gipfel menschlicher Vollendung bezeichnet. Die Mitte ist keineswegs die gültige Form oder Weltanschauung, es ist auch nicht der Ort der Ruhe, der jeglichem Extrem abhold ist. Die Mitte ist „der Herzpunkt des Lebens; als Beziehungspunkt lebendiger Gestalt; als Ausgang und Rückkehr schwingender Bewegung“ (Romano Guardini). Mit der Mitte ist aber auch das Maß verbunden, der Einklang, das rechte Verhältnis. Dazu gehören Zucht, Spannung, Selbstbeherrschung. Deshalb ist mit dem Lob der Deutschen als Volk der Mitte nicht das der Alternativlosigkeit gemeint. Insofern kann es nicht anders sein, als daß die Deutschen ihre Mitte verloren haben.

Was bleibt, ist der alte Anspruch „Werde, der du bist“, der den Deutschen, uns, aufgibt, neu zu lernen, was es heißt, eine Mitte zu haben. Das bedeutet auch, sich von dem Gedanken zu verabschieden, daß einen der Zufall an diese Stelle gesetzt hat und es egal ist, ob das deutsche Volk in hundert Jahren noch existiert oder nicht. Die Mitte setzt eine sinnvolle Ordnung, eine Ganzheit voraus, die in Deutschland kaum noch zu erkennen ist. Damit stehen wir in der westlichen Welt zweifellos nicht allein da. Und doch wird uns die Lösung keiner abnehmen oder vormachen, keiner kann an die Stelle treten, die frei geworden ist, als wir aufhörten, das Volk der Mitte zu sein. Um das wieder zu sein, müssen wir die eigene Mitte finden, in der die Gegensätze ihren gemeinsamen Ausgang haben und die Selbstbehauptung ruht. Erst dann können wir den anderen wieder „als Eigene, eigenen Wortes, eigener Forderung, eigener Tat und der Treue fähig“ (Guardini) entgegentreten.

 

Dr. Erik Lehnert, Jahrgang 1975, Philosoph und Historiker, ist seit 2008 Geschäftsführer des Instituts für Staatspolitik. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Strafbarkeit der Gotteslästerung („Handeln wie ein abgeklärtes Kulturvolk“, JF 40/12).

Foto: Kaiserlicher Adler vor dem Neuen Rathaus in Wiesbaden, 1905: „Macht Europas Herz gesunden, / Und das Heil ist euch gefunden.“ (Emanuel Geibel)

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