© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/13 / 15. März 2013

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Alles halb so schlimm
Christian Schreiber

Die Wahrnehmung ein und desselben Sachverhalts kann in Brüssel und Berlin mitunter ganz unterschiedlich sein. Das zeigt sich gerade eindrucksvoll an der Diskussion über den Zustrom von Zigeunern aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland.

Nach Angaben des Bundesinnenministeriums kamen im Jahr 2012 bis Oktober mehr als 153.000 Menschen aus diesen Ländern nach Deutschland. Damit überstieg die Zahl in nur neun Monaten die Gesamtsumme des Jahres 2011, als 146.000 Rumänen und Bulgaren einreisten; 2007 waren es 63.000.

Für Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sind die Zahlen und die Berichte über wachsende soziale Spannungen in Stadtteilen mit vielen Einwanderern aus Bulgarien und Rumänien, etwa in Berlin und dem Ruhrgebiet, alarmierend. Friedrich will daher den Beitritt der beiden Länder zum sogenannten Schengener Abkommen blockieren, um die Einwanderungswelle besser kontrollieren zu können.

In Brüssel regt sich gegen diese Pläne Widerstand. Denn eigentlich, so findet der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), ist alles gar nicht so schlimm. Richtig sei, daß einige Städte, etwa im Ruhrgebiet, stark belastet seien, sagte er der Nachrichtenagentur epd. Diese Probleme ließen sich aber mit Finanzhilfen und administrativer Unterstützung für die Kommunen bewältigen. 90 Prozent aller ankommenden Roma-Familien seien dagegen keine „schwierigen Fälle“, behauptet Schulz

In Berlin schätzt man die Lage und die soziale Sprengkraft etwas anders ein und verteidigt das angekündigte Veto gegen die Schengen-Erweiterung. Friedrich begründete sein Veto auch damit, daß Deutschland den Ansturm auf sein Sozialsystem stoppen müsse. Es könne doch nicht sein, „daß sich irgendwann einmal aus ganz Europa die Leute auf den Weg machen nach dem Motto: In Deutschland gibt es die höchsten Sozialleistungen“, sagte er dem Spiegel. Die Daten der Bundesagentur für Arbeit zeigen bisher zwar, daß die meisten Zuwanderer aus beiden Ländern dem Sozialstaat bisher nicht zur Last fallen. Ende 2012 waren rund 100.000 Menschen aus beiden Ländern in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Doch in den vergangenen Monaten war der Trend rückläufig, die Arbeitslosigkeit in dieser Gruppe stieg um 35 Prozent. Diese Entwicklung dürfte anhalten, vor allem durch die gestiegenen Einwandererzahlen.

Die SPD-Bundestagsfraktion sprang Schulz zur Seite und warf dem Innenminister vor, er mißbrauche den Schengen-Beitritt Bulgariens und Rumäniens zur „anti-europäischen Stimmungsmache“. Zudem vermenge Friedrich bewußt die Themen Beitritt zum Schengen-Raum und Sozialleistungen in Deutschland – also die Debatte um die Grenzöffnung mit der momentanen Diskussion um Armutsmigration bulgarischer und rumänischer Roma und Sinti nach Deutschland. Ähnlich äußerten sich auch Vertreter von Linkspartei und den Grünen. Rebecca Harms, Grünen-Chefin im Europaparlament, warf Friedrich „wenig hilfreichen Populismus“ vor.

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