© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/13 / 15. März 2013

Er wollte ankommen
Bundespräsident: Vor einem Jahr ist Joachim Gauck ins Schloß Bellevue eingezogen – eine kritische Bilanz
Thorsten Hinz

Vor einem Jahr bezog der neue Bundespräsident Joachim Gauck seinen Amtssitz im Berliner Schloß Bellevue. Die Erwartungen an ihn waren riesig. Die JUNGE FREIHEIT (9/12) brachte sie auf den Punkt: „Wir sind Präsident“, lautete die Titelschlagzeile. Darin steckte die Hoffnung, daß Gauck seine von Staats- und Parteiämtern unabhängige Autorität nutzen würde, um als Anwalt der Bürger aufzutreten, die vom Politik- und Medienbetrieb entmündigt werden.

Doch unter der Hand überwog schon die Skepsis. Gauck sei jetzt „zum konstitutiven Teil des politischen Systems geworden, dessen Regeln feststehen. Übertreten darf er sie nur in absoluten Ausnahmefällen“, schrieben wir. Auch bezeuge seine Wahl die Flexibilität des politisch-institutionellen Gefüges. „Um ihren ramponierten Ruf zu reparieren und sich vor den Wählern neu zu legitimieren, ist die politische Klasse bereit, sich eine externe Autorität ins Haus zu holen.“

Das spielte auf den dramatischen Hintergrund an, vor dem die Schilderhebung des Rostocker Pfarrers und ehemaligen Chefs der Stasi-Unterlagenbehörde stattfand. Das Amt des Bundespräsidenten war ramponiert. Horst Köhler war am 31. Mai 2010 zurückgetreten, sein Nachfolger Christian Wulff nach anderthalb Jahren aus dem Amt gemobbt worden. Beiden war die Euro-Rettung zum Verhängnis geworden. Köhler hatte als Finanzstaatssekretär im Maastricht-Vertrag die No-Bail-out-Klausel durchgesetzt. Nun mußte er die faktische Vergemeinschaftung der Staatsschulden unterschreiben, was gegen seine Selbstachtung ging. Der unbedarfte Wulff hatte öffentlich die Rechtmäßigkeit der Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frage gestellt und damit mutmaßlich eine mediale Strafexpedition gegen sich herausgefordert. Dabei machte er es seinen Gegnern durch seine undurchsichtigen privaten Freundschaften und sein Finanzgebaren besonders leicht.

Gauck durfte sich gewarnt fühlen. Er wußte, daß Politik und Finanzindustrie ganz anderes von ihm erwarteten als die Wähler. Er sollte den ESM-Vertrag durchwinken und die Entmachtung des Nationalstaates zugunsten der Eurokratie vor den Bürgern beglaubigen und legitimieren.

Seine Neigung ging ursprünglich wohl dahin, das informelle Bürgermandat genauso wichtig zu nehmen wie das offizielle Politikermandat. Davon zeugen mehrere Reaktionen, die einen gesunden Menschenverstand verraten. Er korrigierte die Einlassung Wulffs, der Islam gehöre zu Deutschland. Die Zugehörigkeit könne auf den einzelnen Moslem, nicht jedoch auf seine Religion zutreffen.

Die Erklärung Angela Merkels, die Sicherheit Israels sei Teil der deutschen Staatsräson, kommentierte er sinngemäß, er möchte sich die möglichen Konsequenzen nicht ausmalen. Er forderte die Kanzlerin sogar auf, ihre Europapolitik öffentlich zu erläutern. Zuletzt wies er den „Tugendfuror“ überspannter Feministinnen zurück.

Doch handelt es sich immer nur um punktuelle Eingebungen, die sich zu keiner Gegenstrategie fügen. Unterm Strich ist Gauck vom Politikbetrieb, der die Überreste der Volks- und Bürgersouveränität abräumen will, vollständig integriert und absorbiert worden.

Bereits in der Antrittsrede deutete das Elend sich an. Gauck begann mit seinem „Lebensthema ‘Freiheit’“ und versuchte es zu entfalten, ausgerechnet indem er die Fixierung der „Achtundsechziger-Generation“ auf den Nationalsozialismus als „einen mühsam errungenen Segen“ pries, der auch „richtungsweisend für uns nach 1989 in Ostdeutschland“ geworden sei. Damit widersprach er seinen früheren Äußerungen. Soviel Fähigkeit zum Opportunismus überraschte. Die Mauer würde heute noch als Sühnezeichen für die „deutsche Schuld“ Bestand haben, wenn die Geschichte sich an der Vergangenheitspolitik der Achtundsechziger ausgerichtet hätte. Das weiß auch Gauck.

Das Bühnenpathos erreichte den Höhepunkt, als er ausrief: „Euer Haß ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich. Wir schenken euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein und unsere Demokratie wird leben.“ Die Kampfansage richtete sich nicht gegen die Eurokraten, die Finanzoligarchie oder die vom Demos abgelöste politische Klasse, sondern an einen aufgeblasenen Popanz, an die „rechtsextremen Verächter unserer Demokratie“.

Seine Anpassungsbereitschaft stellte Gauck erneut in der Weihnachtsansprache unter Beweis, als er sich über die Lebenswirklichkeit und Kriminalstatistik hinwegsetzte und erklärte: „Sorge bereitet uns auch die Gewalt: in U-Bahnhöfen oder auf Straßen, wo Menschen auch deshalb angegriffen werden, weil sie schwarze Haare und eine dunkle Haut haben.“ In die zwielichtige NSU-Kampagne ließ er sich ebenfalls einspannen. Seine jüngste Rede zu Europa war so substanzlos, daß sie weder in Deutschland noch sonstwo Eindruck gemacht hat.

Ein Bundespräsident steckt in einem starren Korsett. Das von Gauck ist ein doppeltes: ein amtliches und ein ideologisches, das seine grün-rote Kamarilla ihm anlegt. Zu seiner Sprecherin hat er die linke Journalistin Ferdos Forudastan ernannt, die weniger durch Qualität denn als militante Multikulti-Lobbyistin aufgefallen ist. Thilo Sarrazin, dem Gauck ausdrücklich „Mut“ attestiert hatte, wurde von ihr als Vertreter eines „feindseligen, verrohten Bürgertums“ beschimpft. Erstmals gibt es im Bundespräsidialamt eine Referentenstelle zum Thema Migration/Integration. Mit dem Geist der Revolution von 1989, auf den Gauck sich gern beruft und der in der Losung „Wir sind das Volk“ konzentriert ist, hat das alles nichts zu tun. Vom deutschen Volk spricht Gauck schon lange nicht mehr.

Zur Erklärung seiner Konversion wird angeführt, er sei ohnehin erst spät auf den Zug der Bürgerrechtsbewegung aufgesprungen, er habe in der DDR eine angepaßte Existenz geführt. Das ist unangemessen. Gauck übte Widerstand durch beharrliches Standhalten. Es war die Eigenheit der DDR-Bürgerrechtler, daß sie das SED-Regime von links, im Namen eines „wahren Sozialismus“, kritisierten. Der Anachronismus machte sie blind für die Bedeutung der deutschen Frage und rückte sie in die Nähe zur antinationalen Neuen Linken im Westen, über deren Abgründe sie nichts wußten. Damit konnte Gauck sich nicht identifizieren. Die Verschleppung seines Vaters durch die Sowjets hatte die Familie zu entschiedenen Antikommunisten gemacht. Dieses stumme Meinungslager in der DDR erwartete das Heil von der – allerdings stark idealisierten – Bundesrepublik. Kaum jemand wußte, daß beide Alternativen letztlich nahe beieinander lagen. Die Linksverschiebung der Bundesrepublik veranlaßt heute den antikommunistisch und liberal-konservativ gesinnten Gauck, linksgrüne Positionen zu vertreten.

Er berichtete, seine Mutter habe in die Kinder die Überzeugung gepflanzt, sich mit der Ablehnung der DDR auf der Seite der „Guten“ zu befinden. Die Eitelkeit, die manche an ihm monieren, ist Ausdruck seiner „Auserwähltheit“. Als Bundesbeauftragter für die Stasi-Akten konnte er tatsächlich die schwarzen von den weißen Schafen scheiden, was ihm sichtlich Genugtuung bereitete. Der Bundesrepublik, die ihn so hoch erhoben hatte, dankte er, indem er sie zur besten aller möglichen Welten erklärte. Beides verschaffte ihm Ansehen, im Westen freilich mehr als im Osten.

Auf ihren politischen Kern reduziert, fällt die Bilanz seiner Tätigkeit eher unspektakulär aus. Als Stasi-Beauftragter war er objektiv ein Funktionär der alten Bundesrepublik, die sich treu bleiben und zu diesem Zweck die DDR entsorgen wollte. Als Wanderprediger der Freiheit war er ein politischer Romantiker und halbwissender Hofnarr.

Anläßlich seiner Wahl fragten wir, ob es dem Stasi-Bewältiger nicht aufstoße, wenn der Verfassungsschutz die Politik und Meinungsbildung beeinflußt und die Meinungs- und Diskussionsfreiheit durch Strafgesetze beschränkt wird. Ob es ihn nicht bedrücke, daß die Mentalität der Stasi-IMs sich erneut ausbreitet und als vermeintliche Zivilcourage sogar öffentliche Förderung und Anerkennung findet, die sie selbst in der DDR niemals hatte.

Dazu schweigt Joachim Gauck. Dafür kann man Verständnis haben. Kein Mensch kann das Widerstehen unendlich verlängern, irgendwann will er sagen: Ich habe gekämpft, nun will ich angekommen und einverstanden sein. Objektiv belegt seine Anpassungsleistung, daß die Bundesrepublik keinen Repräsentanten mehr hervorbringt oder auch nur duldet, der sich als Sprecher für das indigene deutsche Volk betätigt.

Foto: Bundespräsident Joachim Gauck: Das deutsche Staatsoberhaupt steckt in einem starren Korsett

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