© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/13 / 15. März 2013

Am Deich
Redakteure und ihre Heimat: Matthias Bäkermann ist ein Sohn der friesischen Nordseeküste / JF-Serie, Teil 11
Matthias Bäkermann

Windstille ist ein seltenes Phänomen. Den großen Eschen und Eichen, die den einsamen, rotklinkernen Bauernhof einhegen, hat der Kampf mit den fast unablässig wehenden Westwinden ein schiefes Gleichmaß in ihre Kronen geschlagen. Unweit davon, an der Dorfschule, die wegen der Distanz von nur 400 Metern zur Küste treffend „Deichschule“ heißt, fallen zwei Markierungen auf. Knapp hüfthoch neben dem Eingang das Normalnull-Kennzeichen, welches die mittlere Meeresspiegelhöhe anzeigt, und, viel bedrohlicher, ein ähnliches Blechschild oben am Giebel, das mahnend einen imaginären Wasserstand der Jahrhundertflut von 1962 anzeigt – hätte der Deich den Fluten nicht standgehalten.

Den vielen Schweiburger Kindern, die Ende der siebziger Jahre in dem kleinen Ort direkt am Jadebusen wohnen, mutet die Nähe zur Nordseeküste wenig spektakulär an. Da sich jenseits des Deiches mehrere hundert Meter die Salz-wiesen ausbreiten, bevor man ans täglich zweimal überschwemmende Watt kommt, zieht es diese „Babyboomer“-Geburtsjahrgänge zum sommerlichen Baden lieber ins fünf Kilometer entfernte Strandbad oder gar ins Freibad mit seinen himmelblau leuchtenden Schwimmbecken. Nur im Winter strömen alle – natürlich ohne Aufsicht Erwachsener! – an den Deich, der als einzige nennenswerte Erhebung für die kurzen Rodelvergnügen herhalten muß, immer wieder, bis man sich mit frostklammen Fingern in der Dämmerung auf den Heimweg macht.

Wortkargheit zeichnet viele Leute dieser Region an der südlichen Nordsee aus. Fast brummig wirkten schon damals die Bauern mit „Schietkittel“ und Prinz-Heinrich-Mütze, die Platt schnackten und mit ihren dunkelgrünen Mercedes-Dieseln herumfuhren. Im Anschluß an Treibjagden oder nachdem die „Kekler un Mäkler“ (so heißen die Zuschauer) beim „Klootschmieten“ unterwegs waren, einem archaisch anmutenden Sport, bei dem starke Männerarme bleischwere Kugeln quer über frostweiße Marschenwiesen treiben, da fanden sich viele durchgefroren und schweren Schrittes noch im „Kroog“ ein, wo einem schon an der Kneipentür der Dunst des heißen Grogs und deftiger Grünkohlgeruch entgegendrang.

Neben den „Hiesigen“ lebten fast gleich viele „Flüchtlinge“ im Ort. Die Älteren verriet noch ihre Sprachfärbung von der unteren Weichsel oder der oberen Oder. Jetzt wohnten jene in der „Siedlung“, einem Baugebiet aus den späten fünfziger Jahren, wo Bescheidenheit groß- und Kinderarmut kleingeschrieben wurde. Die Kluft des Gegensatzes zwischen den Nord- und den Ostdeutschen war nun, viele Jahre nach Kriegsende, bereits überwunden. Dennoch spürte man noch den Nachhall früherer Spannungen, am längsten vielleicht auf konfessioneller Ebene.

Das Gesicht meiner Heimat hat sich in den vergangenen Jahren, oberflächlich betrachtet, nicht allzusehr gewandelt, manches stellt sich sogar ordentlicher, adretter, aufgeräumter dar. Es stechen dennoch Veränderungen hervor, die heute Wehmut provozieren. So treffen sich zwar immer noch alljährlich die Schweiburger am Osterfeuer, es ist jedoch augenfällig, daß sich viele der heutigen Bewohner der Angestellten-„Schlafstätte“ allenfalls flüchtig kennen. Die Zeiten, in denen es normal war, daß die Nachbarschaft und nicht ein Beerdigungsinstitut das Begräbnis organisierte, scheinen endgültig vorbei zu sein. Der „Kroog“ ist ohne Pächter und geschlossen, nur in wenigen Häusern hört man noch Plattdeutsch oder ein Kinderlachen. Nirgendwo sind Baumbuden oder phantasievoll angestaute Entwässerungsgräben zu entdecken oder die abendlichen Dorfstraßen vom röhrenden Lärm der Mofas junger, nach mobiler Unabhängigkeit hungriger Halbstarker erfüllt, so wie damals.

Im vergangenen Jahr wurde im Zeichen des Küstenschutzes der Deich erhöht. Die Gefahr des „blanken Hans“ in den Stürmen der dunklen Jahreszeit ist für die Schweiburger dadurch geringer geworden. Um die prächtigen roten Sonnenuntergänge über dem Wattenmeer zu bestaunen und dabei die salzige Luft zu schmecken, muß man allerdings jetzt ein paar Stufen höher steigen.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen