© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/13 / 15. März 2013

Europäischer Binnenmarkt
Freihandel, aber vernünftig
Karl Albrecht Schachtschneider

Die Europäische Union ist gescheitert. Ihre wirtschaftliche und politische Instabilität ist offensichtlich geworden. Die Union hatte niemals eine Chance, ihre vollmundigen Ziele zu erreichen, etwa nach der Lissabon-Strategie von 2000 „bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum in der Welt zu werden, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen“. Nicht erst der Euro hat ihre Stabilität beendet, sondern ihr Grundfehler war bereits der Binnenmarkt. Die Einheitswährung sollte diesen korrigieren, hat aber den Absturz beschleunigt.

Der Binnenmarkt ist die Wirklichkeit der Grund- oder Wirtschaftsfreiheiten, nämlich Warenverkehrs-, Niederlassungs-, Dienstleistungs-, Kapitalverkehrsfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit. Sie sind mit aller Härte durchgesetzt worden und haben die Märkte der Union dereguliert. Die Deregulierung des Binnenmarktes folgt der Freihandelsdoktrin, die auch die vermeintlich neoliberale Globalisierung begründet. Sie nimmt den Völkern den Schutz ihrer Volkswirtschaften. Ohne definierte komparative Vorteile, die spezifische Voraussetzungen wie die vollständige Auslastung der Ressourcen der beteiligten Völker haben, sind Vorteile der einen nichts als Nachteile der anderen, nämlich absolute Vorteile (etwa niedrige Löhne in einem Land), die im anderen Land zur Arbeitslosigkeit führen, insbesondere wenn die Produktion in das Niedriglohnland verlagert wird. Die Kosten der Arbeitslosigkeit im Hochlohnland verteuern dessen Konsum der importierten Waren.

Eigentlich müssen alle Kosten des Gemeinwesens zusammengefaßt werden, um die wirklichen Produktionskosten zu errechnen. Das zeigt sich in den Steuer- und Beitragslasten, welche Unternehmen, Arbeitnehmer und Verbraucher zu tragen haben. Die Exportländer der Billigprodukte haben nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile. Sie behandeln ihre Arbeitnehmer wie Sklaven, vernachlässigen Binnenmarkt und Infrastruktur. Dieser Fehlentwicklung versucht China gerade entgegenzuwirken.

Aus sozial- und damit wahlpolitischen Gründen sind die Löhne in der Euro-Union einander angenähert worden, mittels inflationärer von Banken und Zentralbanken alimentierter Lohnpolitik schon vor der Währungseinheit und danach bis zur Finanzkrise vornehmlich durch zinssubventionierte Kredite wegen des undifferenzierten Zinssatzes im Eurogebiet. Die Einheitswährung hat den schwächeren Volkswirtschaften einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil genommen: nämlich die Abwertung, welche die gleiche und meist sogar stärkere Wirkung für die Exportfähigkeit eines Landes hat wie die schwer durchzusetzende Lohnzurückhaltung. Eingriffe des Staates in das Lohngefüge kosten meist die Macht im Staat, solange dieser noch (wirklich) ein Mehrparteienstaat ist, wie das Beispiel der Schröderschen „Agenda 2010“ zeigt. Die marktoffenen Währungen entfalten ihre kostenpolitischen Wirkungen unerbittlich. Sie erweisen zugleich die Einheit von Wirtschaft und Staat und damit die schicksalhafte Einheit des Volkes. Das ist für die demokratische Realisation wesentlich.

Weil sie ihre Währung nicht eigenständig abwerten können, haben die ohnehin schwächeren Volkswirtschaften der Union die Wettbewerbsfähigkeit nicht nur im europäischen – wegen der nationalen Sozialpolitik unvollkommenen – Binnenmarkt gänzlich verloren, sondern auch auf dem globalen Markt. Die asiatischen Niedriglohnländer liefern Konsumgüter preisgünstiger und nehmen auch den weltmarktschwachen Binnenmarktmitgliedern die Arbeitsplätze, allemal nachdem letztere den Lebensstandard der Bevölkerung auf das deutsche oder gar ein höheres Niveau angehoben haben.

Aber auch ohne die Währungseinheit wirken die Marktgesetze in dem unechten Freihandel, der vertraglich und gesetzlich verordnet ist, verheerend, wenn auch langsamer, jedenfalls wenn und weil Volkswirtschaften von Importen abhängig sind, zumal vom Ölimport. Sie können sich deswegen eine übermäßige Abwertung nicht leisten. Sie müssen die Devisen für den Import erwirtschaften können und benötigen um einer importfähigen Währung willen eine hinreichend ausgeglichene Handelsbilanz. Regelmäßig haben solche Länder wenig entwickelte Infrastrukturen und keine hinreichend produktionsstarke Industrie. Solange ihre Produktionskosten gemessen in Stückkosten höher sind als in anderen exportfähigen Staaten, sind sie in Strukturen eines Binnenmarktes und offenen globalen Marktes schutzlos dem Niedergang ausgeliefert, zumal wenn sie den wichtigsten allgemeinen Schutz aufgegeben haben: die Abwertung ihrer Währung.

Schutzloser Wettbewerb, das System des unechten Freihandels, nützt immer nur den Starken und schadet den Schwachen. Die Divergenz wird stetig größer. Das ist ein Gesetz des nicht hinreichend geschützten Wettbewerbs. Ein Wettbewerb, in dem nicht alle Wettbewerber die gleichen Chancen haben, ist unfair, rechtlos; er ist Wirtschaftskrieg. Einige Volkswirtschaften der Union, zumal die deutsche, sind exportstärker als andere, insbesondere an deren südlicher Peripherie. Das zeigt sich an den Stückkosten, aber auch am Industriealisierungsgrad und anderen Elementen mehr, resultiert aber auch aus der harten Niedriglohnpolitik. Der Anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt ist in Deutschland etwa doppelt so hoch wie in Frankreich. Der Franc wertete vor der Währungsunion stetig gegenüber der D-Mark ab. Nicht anders war die Entwicklung Italiens: Die Lira verfiel.

Die Währungseinheit hat diese Lage noch verschlimmert und zudem Deutschland einen erheblichen Wettbewerbsvorteil am europäischen und globalen Markt verschafft, nämlich eine weit unterbewertete Währung und damit ein sittenwidriges Preisdumping, während die anderen Partner des Binnenmarktes (abgestuft) mit überbewerteten Währungen im europäischen und globalen Wettbewerb bestehen müssen, aber nicht können. Eine Aufwertung würde die Exportpreise der deutschen Industrie nicht markt- und wettbewerbsschädlich erhöhen, weil die Importe verbilligt würden, die einen Großteil der Produkte ausmachen. Zudem würde der deutsche Binnenmarkt durch Stärkung der Kaufkraft der deutschen Bevölkerung erheblich belebt werden. Das könnte auch den Arbeitsmarkt stärken. Nolens volens ist Deutschland Nutznießer des unechten Freihandels und der Einheitswährung, vor allem am Weltmarkt auch zu Lasten der Partner des Binnenmarktes.

Die Kritik der Freihandelsdoktrin will nicht etwa abgeschotteten Märkten das Wort reden, sondern einer praktisch vernünftigen Politik der Staaten, welche im Sinne Friedrich Lists bilaterale oder auch multilaterale Verträge im jeweils eigenen Interesse eingehen. Daß ein Exportland wie Deutschland die Zuständigkeit für die Handelspolitik aus der Hand gegeben hat, ist daher eine untragbare Souveränitätsverletzung!

Auch die Deutschen erleiden Schäden. Ihre Kaufkraft stagniert, ihre Spareinlagen werden kaum verzinst, ihre Lebensversicherungen erleiden wegen der fast unverzinslichen deutschen Staatsanleihen Renditeverluste, und anderes an Sozialdividende der Aufwertung (Karl Schiller) mehr ist verloren. Lange wurden Investitionen im Lande vernachlässigt. Schließlich wird den Deutschen mittels der europäistischen Ideologie die Finanzierung des letztlich gescheiterten, blasenhaften Aufschwungs vor allem der Peripheriestaaten der Union abgenötigt. Gewinner sind die internationalen Banken, deren Rettung, kaschiert als Eurorettung, auch Deutschland ruinieren wird. Die inflationäre Geldmengenerweiterung durch die Staatsfinanzierung der Europäischen Zentralbanken zerstört endgültig die wirtschaftliche Stabilität.

Die Profiteure der unechten Freihandelspolitik sind die international agierenden Unternehmen. Die Produktion in den Billiglohnländern verschafft ihnen größtmögliche Gewinne in den Importländern. Banken, Versicherungen und institutionelle Anleger können das weitgehend privat geschöpfte Kapital mit größtmöglicher Rendite nutzen. Sie drohen den Staaten mit Kapitalverlagerungen und zwingen diese, auf sachgerechte Besteuerung, aber auch auf Regulierungen des Kapitalverkehrs zu verzichten, ja sogar ihre Risiken und Verluste zu sozialisieren. Die Kapitalverkehrsfreiheit war und ist der entscheidende Schlag gegen die Souveränität der Völker.

Schließlich profitiert die politische Klasse, welche den einstigen Rechtsstaaten durch die europäische und globale Integration das Recht genommen hat. Von den Gerichten ist der Schutz des Rechts indes nicht mehr zu erwarten. Sie gehören, wie die meisten Medien, zur Herrschaftsklasse. Das Parteienwahlsystem (Verhältniswahl mit Fünf-Prozent-Sperrklausel) sichert mittels der starren Landeslisten die Wahl hinreichend gefügiger Politiker in die Staatsämter. Die Medien, in der Hand weniger Großverlage, stützen das System durch Desinformation und heuchlerischen Moralismus.

Europäisierung wie Globalisierung sind Instrumente bestimmter Kräfte, die seit langer Zeit eine „One-World-Politik“ betreiben. Für die Neue Welt wollen deren Protagonisten die Menschheit nach ihrem Bilde formen, sie zu Arbeitern und Verbrauchern degradieren, sie jedenfalls beherrschen, ihnen die Freiheit und damit Würde nehmen. Sie mögen auch Gutes wollen, aber sie achten die Menschen nicht als ihresgleichen. Die Freiheit jedes Menschen ist ihnen, wohl aufgrund ihres Reichtums und ihrer Macht, fremd. Hier paßt die Warnung Friedrich Nietzsches: „Und behüte dich vor den Guten und Gerechten“, jedenfalls vor denen, die sich als solche feiern, den moralistischen Jakobinern.

Bevormundung ist gegen die Menschheit des Menschen gerichtet, Moralismus das Gegenteil von Moralität. Die Welt muß so eingerichtet sein, daß alle Menschen in Freiheit leben können, also in demokratischen Republiken, die es nur in kleinen Einheiten geben kann. Darin muß jedes Gemeinwesen sich in eigener Verantwortung entfalten und vor der Intervention anderer geschützt werden – auch der vermeintlich humanitären, die regelmäßig eine Schutzbehauptung für Eroberungen aus wirtschaftlichen Interessen ist. Wenigstens in Europa sollten wir die Kultur der Freiheit nicht aufgeben.

Der Binnenmarkt hat sich entgegen allen Illusionen nicht zu einem homogenen Wirtschaftsraum integriert, sondern trotz großer Subventionen der Unionsfonds die Divergenzen verstärkt. Sein Bestand erzwingt die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im vereinten Raum, also eine Politik auch der sozialen Integration. Das geht nur mittels eines großen Finanzausgleichs, der alle überfordert und den großen Unionsraum im Weltmarkt derart schwächt, daß er insgesamt seine Wettbewerbsfähigkeit verliert.

Vor allem verliert Europa seine politische Kultur, nämlich mit der Demokratie und dem Rechtstaat die Freiheit. Das große Wort „Freihandel“ vermag die Politik der Verarmung der Vielen und der Bereicherung der Wenigen nicht zu legitimieren. Freiheit verträgt unechten Freihandel nicht.

 

Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider, Jahrgang 1940, lehrt Öffentliches Recht an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er klagt erneut mit Volkswirten gegen die Politik der Euro-Rettung.

Foto: Im Abwärtsstrudel: Der Grundfehler der Europäischen Union war bereits der Binnenmarkt. Die Euro-Einheitswährung sollte diesen korrigieren, hat aber den Absturz beschleunigt.

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