© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/13 / 15. März 2013

Die grüne Religion
Des Deutschen ewige Suche nach der eigenen heilen Welt: Warum Landlust, Atomkraft-Protest oder Dosenpfand an die Stelle anderer Nationalmythen treten. Der Technikwissenschaftler Andreas Möller seziert den grünen Sonderweg
Michael Paulwitz

Grün ist der deutsche Sonderweg. Andreas Möller hat sich die quasireligiösen Substrate vorgenommen, die diesen Sonderweg pflastern: „Das grüne Gewissen. Wenn die Natur zur Ersatzreligion wird“ ist ein in vieler Hinsicht erhellendes Buch. Gründlich und belesen seziert der 1974 in Rostock geborene Technikwissenschaftler die spezifisch deutsche Befindlichkeit, die den Höhenflügen der Grünen zugrunde liegt und im Land der Ingenieure die Naturmystik blühen läßt, durchwandert die Spielarten der Öko-Religion und ihrer Anhänger vom saturiert-selbstgerechten Bionade-Pharisäer bis zum militant-eifernden Veganer und kommt zu dem Schluß: Bei der grünen Suche nach der heilen Welt geht es nicht um die Natur als Ganzes, sondern um ein idealisiertes, mythisiertes Bild von ihr als Werteersatz und Projektionsfläche für ein willkürlich zusammengestelltes und als „Natur“ deklariertes Selbstbild.

Möllers Stärke ist, daß er seinen Gegenstand nicht mit dem irritiert-überheblichen Kopfschütteln des progreßgläubigen, profitmaximierenden Brachial-Materialisten betrachtet. Der Rostocker, der 2005 an der Berliner Humboldt-Universität mit einer Arbeit über die Wissenschafts- und Technikkritik in der Weimarer Republik promoviert wurde, kennt die geistigen Wurzeln deutscher Fortschrittsskepsis, Oswald Spengler und Friedrich Georg Jüngers „Perfektion der Technik“ sind ihm nicht nur als Buchtitel geläufig, er hat sie gelesen und weiß, daß Naturliebe und Zivilisationspessimismus zumindest bis 1968 eine Domäne der Konservativen, der Rechten war, während der Fortschrittsglaube untrennbar zur Linken gehörte, bis sich in den Siebzigern die Fronten umkehrten.

Das gefühlsgespeiste „Zurück zur Natur“ ist in dieser Perspektive keine grüne Erfindung, sondern geradezu Ausprägung eines deutschen Nationalcharakters. „Der Engländer sah sich gern auf dem Meer, der Deutsche sah sich gern im Wald“, sortiert der von Möller zitierte Elias Canetti die Nationalgefühle, und, aus anderer Quelle: „Der Franzose flieht in den Salon oder zettelt eine Revolution an, der Deutsche geht ins Grüne.“

Deutsche Naturinnigkeit also als tiefere Ursache dafür, daß Ideologien wie Klima- und Umweltschutz in Deutschland ernster als überall sonst auf der Welt genommen werden? Die Flucht vor dem zu Großen, Unbeherrschbaren als Erklärung dafür, daß modernen Technologien wie Kernkraft, grüne Gentechnik oder „Fracking“ hierzulande erbitterter Widerstand entgegenschlägt, der anderswo nur mit ungläubig hochgezogener Augenbraue registriert wird? Ganz so einfach macht es sich Andreas Möller mit dem grünen Sonderweg der Deutschen nicht. „Grüne Bürgerinitiativen gegen den Ausbau der Kernkraft und zeitgleiche Proteste gegen die atomare Wiederbewaffnung bildeten in Deutschland bereits in den frühen Siebzigern eine im Vergleich zu anderen Ländern singuläre Melange“ – das habe vor allem mit der „besonderen gesellschaftlichen und politischen Situation“ zu tun: eine emotionale Reaktion auf ein „Gefühl der Ohnmacht“.

Das muß allerdings kein Widerspruch zum „Romantik- und Idealismus-Erbe“ sein, das Möller auch wieder nicht allzu hoch hängen möchte. Parallelen zwischen der Situation um 1800 und dem Deutschland des Kalten Krieges lassen sich nämlich durchaus ziehen, auch wenn der Autor diesen Gedankenstrang nicht weiterverfolgt: Feudale Zersplitterung, französische Fremdherrschaft, absolutistische Bevormundung damals, deutsche Teilung, Vormundschaft der Sieger und Degradierung Deutschlands zum nuklearen Gefechtsfeld der Supermächte in den Siebzigern und Achtzigern – die Situationen politischer Ohnmacht, in denen die Deutschen ihre irrationale geistige Flucht ins Grüne antraten, ähneln sich durchaus.

Daß die Anti-Atom-Bewegung in West- und Mitteldeutschland ungefähr zeitgleich aufkam, wie Möller schön nachzeichnet, bekräftigt den Befund. Die deutsche Umweltbewegung „nahm die Energie des Jahres 1968, verband sie mit bürgerlichen Attributen und glaubhaften Problemen der Industrialisierung und Aufrüstung vor Ort“ – so wurden grüne Gedanken zur „Konsensformel“ für viele und konnten nach 1989 zur „gesamtdeutschen Identität“ werden: „Das grüne Gewissen trat an die Stelle anderer Nationalmythen.“

Geworden ist daraus freilich allzuoft eine behäbige Weltanschauung für saturierte Spießer. Andreas Möller dokumentiert die intellektuelle Selbstzufriedenheit grünen Denkens unaufgeregt an einer Fülle von Beispielen aus allen Lebensbereichen, von der Medizinkritik und Impfverweigerung über den Kult der „guten, einfachen Technik“ und der handgemachten Dinge bis zur modischen Verachtung industrieller Landwirtschaft und der Verklärung eines hochglanzpolierten Wunschbildes vom Landleben ohne Würmer im Apfel und Dreck an den Füßen – die Marketingbilder der Ökoversender und der „konventionellen“ Agroindustrie sind da etwa gleich weit von der Realität weg.

Im grünen Natur-Biedermeier läßt es sich deswegen so bequem einrichten, weil nichts davon mühsam mit Verzicht erkauft werden muß: „Niemand, der etwas mehr für Porree und Karotten zahlt, Öko-Strom bestellt oder Wald-Aktien kauft, muß Komfortabstriche in Kauf nehmen.“ Im Gegenteil, Photovoltaikanlagen bringen hochsubventionierte Traumrenditen, das gute Gewissen kann man ohne Reue einkaufen. Daß sein Lebensstil ein elitäres Modell für eine Minderheit ist, mit dem man die Menschheit weder erlösen noch auch nur ernähren oder ihre existentiellen Lebensprobleme lösen könnte, schiebt der grüne Pharisäer gerne beiseite.

Leider sagt Möller in seiner Kritik der grünen Religion wenig über Intoleranz, Zelotentum und die Bestrebungen, die errungene Diskurshegemonie zu einer ideologischen Öko-Diktatur auszubauen, um den Traum des wildgewordenen Kleinbürgers wahr werden zu lassen, über Vorschriften und Verbote möglichst alle zum eigenen Lebensstil und Anschauungshorizont zu zwingen.

Dem „gefährlichen Pathos der Romantik“, in dem die Deutschen ihrer Naturliebe wegen „noch immer mit einem Bein“ stehen, schreibt der Rostocker, der bis 2011 den Bereich Politik- und Gesellschaftsberatung der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) leitete und seither in der Wirtschaft tätig ist, Hölderlins „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ auf den Bio-Einkaufszettel: Gestalten kann nur, wer sich nicht selbst mit abstrakten Leerformeln wie „Klimaschutz“ und „Nachhaltigkeit“ ruhigstellt, sondern wieder anfängt, im Konkreten zu denken.

Andreas Möller: Das grüne Gewissen. Wenn die Natur zur Ersatzreligion wird. Carl Hanser Verlag, München 2013, broschiert, 264 Seiten, 17,90 Euro

Foto: Die Natur als Ersatzreligion: Aus einem grünen Gewissen wurde eine behäbige Weltanschauung für saturierte Spießer

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen