© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/13 / 15. März 2013

Aus der Hölle am Eismeer
Ein unbekanntes Manuskript des 1990 verstorbenen Schriftstellers Horst Bienek über seine Haftzeit im sowjetischen Workuta ist jetzt in Buchform erschienen
Jörg Bernhard Bilke

Als Horst Bienek am 7. Dezember 1990 in München starb, stand er auf dem Gipfel seiner Laufbahn als Schriftsteller. Nach zwei Gedichtbänden und dem Roman „Die Zelle“ (1968) hatte er in den Jahren 1975 bis 1982 einen Zyklus von vier Bänden über seine oberschlesische Heimatstadt Gleiwitz abgeschlossen, dem mit „Königswald oder Die letzte Geschichte“ 1984 noch ein fünfter folgen sollte. Davor und daneben waren literarische Essays entstanden, „Werkstattgespräche mit Schriftstellern“ (1962) und – gegen Ende seines Lebens – Kindheitserinnerungen aus Oberschlesien.

Diese Leistung ist um so höher zu bewerten, als der Autor erst 1955 aus dem sowjetischen Straflager Workuta am Eismeer entlassen worden war, wo er die Jahre 1952 bis 1955 als politischer Gefangener hatte zubringen müssen, ständig in der Angst, zu verhungern oder zu erfrieren. Diese schrecklichen Jahre freilich blieben bis zuletzt unerzählt. Erst jetzt wurde, aufgefunden im „Horst-Bienek-Archiv“ der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek in Hannover, ein schmales Manuskript von kaum sechzig Seiten gefunden, das in der Buchfassung den schlichten Titel „Workuta“ trägt.

Der Name „Workuta“ stand für das weitverzweigte Lagersystem in der Sowjetunion, den „Archipel Gulag“ (Alexander Solschenizyn), in dem seit 1929 bis zu Stalins Tod 1953 und darüber hinaus Hunderttausende von „Klassenfeinden“ ausgebeutet und zu Tode geschunden wurden, falls sie nicht das „Glück“ hatten, vorher in Moskau erschossen zu werden wie 1951 der Rostocker Student Arno Esch. Das Lager Workuta selbst, im nördlichen Ural jenseits des Polarkreises gelegen, war zwischen 1938 und 1960 in Betrieb. Dort arbeiteten 70.000 politische Häftlinge und nach 1945 deutsche Kriegsgefangene unter Tage, um die gewaltigen Vorräte an Steinkohle abzubauen. Schätzungen von heute gehen davon aus, daß von den weit über eine Million ans Eismeer Verschleppten mindestens ein Viertel – also 250.000 Opfer – in der Workuta umgebenden Lagerwelt jämmerlich umkamen. Als 1941 von Häftlingen die Eisenbahnlinie zum Abtransport der geförderten Kohle gebaut wurde, hieß es, symbolisch lägen unter jeder Schwelle zwei Tote.

Horst Bienek, der seine Lagererinnerungen tief in seinem Inneren vergraben hatte, wurde erst dann wieder auf dieses verschüttete Kapitel seines Leben gestoßen, als er zur Leipziger Buchmesse 1990 aus seinem Roman „Die Zelle“ las und von Häftlingen gleichen Schicksals unter den Zuhörern mit Fragen bestürmt wurde, beispielsweise zum Streik im Sommer 1953, der in Schacht 29 ausgebrochen war und grausam niedergeschlagen wurde: „Ich wußte, jetzt muß ich darüber schreiben.“

Zuvor aber lebte der junge Autor in Potsdam, hatte einige Gedichte veröffentlicht und fuhr jeden Morgen mit der S-Bahn durch die Westsektoren nach Ost-Berlin, wo er als Schüler Bertolt Brechts dem Meister bei den Proben zusah. Am 8. November 1951 wurde er verhaftet, weil er einem West-Berliner Bekannten ein Potsdamer Telefonbuch, das es bei der Post zu kaufen gab, mitgebracht hatte. Am 12. März 1952 erfolgte dann die Verurteilung zu zwanzig Jahren Lagerhaft durch drei gelangweilte sowjetische Offiziere. Über Berlin-Lichtenberg kam er nach Berlin-Karlshorst, dem Hauptquartier der Besatzungsmacht, wo er und Hunderte Mitgefangener in die „Stolypinschen Waggons“ verladen wurden, bis sie nach tagelanger Fahrt bei eisiger Kälte im Moskauer Durchgangsgefängnis Butyrka eintrafen.

Vier Wochen waren die Verurteilten dann von Moskau aus unterwegs, überall wurden Gefangene zugeladen, Aufständische aus den nach 1945 besetzten Staaten, zum Beispiel polnische Partisanen der „Heimatarmee“, die noch bis 1951 gegen die russische Besatzungsmacht gekämpft hatten, aber auch nationalgesinnte Ukrainer, Esten, Letten und Litauer: eine „Internationale der Stalin-Opfer“, wie Horst Bienek schreibt.

Die hygienischen Zustände, Hunger, Erschöpfung, einhergehend mit Krankheiten, die kaum behandelt wurden, forderten zahlreiche Todesopfer. Schon bei der Ankunft entdeckten sie ein Wanzennest: „Die Pritsche war dick mit Wanzen besetzt, wie eine Bienentraube. Wir guckten uns das alle an. Wir hatten in den letzten Wochen immer wieder mit Wanzen zu tun gehabt. Aber so viele Wanzen auf einmal hatte ich noch nie gesehen. Es schien so, als ob sie die ganze Pritsche wegschleppen würden.“

Erst Bundeskanzler Konrad Adenauer erreichte es während seiner Moskaureise im Spätsommer 1955, daß die letzten 10.000 Kriegs- und Zivilgefangenen, darunter auch Horst Bienek, freikamen.

Michael Krüger (Hrsg.): Horst Bienek. Workuta. Wallstein-Verlag, Göttingen 2013, gebunden, 80 Seiten, 14,90 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen